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Happy-Slapping-Szene, nachgestellt mit Porzellanfiguren des Londoner Künstlers Barnaby Barford.

 

Foto: Archiv

Mit der aktiven Hilfe von Schülern und mit Videoclips wollen Forscherinnen der Fachhochschule Campus Wien das Gespenst Jugendgewalt fassen.

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Kaltblütige Teenager, die ihre Altersgenossen schikanieren und bedrohen, die sich vollsaufen, zudröhnen, randalieren und auf Spielplätzen genauso wie im Cyberspace Angst und Schrecken verbreiten: So weit das gängige, meist wenig schmeichelhafte Bild von "der heutigen Jugend", das durch die Medien geistert.

"Immer wenn über Jugend geredet wird, sucht man ein Problem, ob es Alkohol ist oder Gewalt", sagt Ingrid Kromer, Jugendforscherin am Kompetenzzentrum für soziale Arbeit (Kosar) der Fachhochschule Campus Wien. "Das ist nichts Neues." Abgesehen von polizeilichen Statistiken bezüglich der Jugendkriminalität, die stets nur die Häufigkeit der Anzeigen abbilden, gibt es jedoch wenige wissenschaftlich untermauerte Daten, wenn es darum geht, was die Betroffenen selbst über das Phänomen Jugendgewalt denken.

"Unser Ziel ist es, die Jugendlichen besser zu verstehen", sagt Ingrid Kromer, die gemeinsam mit Christine Atzmüller das Projekt "Peer Violence - Gewalt unter Jugendlichen aus der Perspektive von Jugendlichen" leitet. "Es geht nicht um kriminelle Handlungen, sondern um alltägliche Gewalt - jugendspezifische, oft unreflektierte Blödeleien, die in Gewalt münden", betont Kromer. Um herauszufinden, wo Jugendliche die Grenze zu gewalttätigem Verhalten ziehen, wie sie Gewaltsituationen einschätzen und was sie von verschiedenen Maßnahmen zur Deeskalation halten, arbeiten Kromer und ihr Team mit Schülern und Schülerinnen aus vier Partnerschulen in Wien zusammen.

Die Studie, die vom Programm Sparkling Science des Wissenschaftsministeriums gefördert wird und den Schülern auch Einblicke in die Arbeit der Forscher geben soll, ist derzeit noch in der explorativen Phase. Mithilfe der 13- und 14-jährigen Experten erheben die Sozialwissenschafterinnen vorerst, was überhaupt typische Gewaltszenarien sind. Dazu werden Aufsätze und Interviews analysiert, Gruppendiskussionen und Workshops, in denen Buben und Mädchen auch getrennt arbeiten, ausgewertet.

Cybermobbing

"Die Bandbreite der Gewalterfahrungen ist sehr groß", sagt Kromer. "Das geht von Hänseleien und Beleidigungen, etwa über Cybermobbing - dem Verbreiten von Gerüchten oder peinlichen Bildern über Facebook und SMS - bis hin zu Treten und Schlagen oder Happy Slapping, wo die Schlägerei gefilmt wird." Datenmaterial dazu ist rar, der Gewaltbegriff meist sehr vage: In der kürzlich veröffentlichten europaweiten Studie "EU Kids Online" gaben 19 Prozent aller befragten Neun- bis 16-Jährigen an, mindestens einmal in einer "schmerzhaften oder gehässigen" Weise angegriffen worden zu sein. Unter Österreichs Jugendlichen waren es sogar 27 Prozent, die derartige Erfahrungen gemacht hatten, in sieben Prozent der Fälle online.

Anhand der Erfahrungen der Jugendlichen entwickeln die Kosar-Forscherinnen konkrete Situationen, die als Basis für die sogenannte Vignettenmethode dienen. "Vignetten sind kurze Szenarien, die aus einzelnen Bausteinen bestehen", sagt Christiane Atzmüller, Methodenexpertin im Projekt. "Diese Bausteine, wie Eigenschaften der Opfer, Täter und der Situation, werden systematisch ausgetauscht. Die Szenen werden den Jugendlichen dann in einer bestimmten Reihenfolge vorgelegt oder per Videoclip vorgespielt. So können wir feststellen, ob es Unterschiede in der Bewertung gibt, wenn beispielsweise ein Mädchen die Täterin ist oder jemand mit anderer Herkunft."

Geplant ist eine Gruppendiskussion, in der einige wenige Szenarien eingehend erörtert werden, in einem zweiten Teil der Studie sollen rund 1600 Schülerinnen und Schüler eine große Zahl von Videovignetten direkt am Bildschirm bewerten. Die Filmclips werden übrigens an den Schulen mit Laiendarstellern gedreht, bis zu 80 Variationen kann dabei ein Szenario haben. In der Analyse können die Forscherinnen dann statistisch fundiert berechnen, welche Bausteine für die Einschätzung von Gewaltszenen maßgeblich waren - insbesondere welche Rolle Geschlecht und Migrationshintergrund spielen.

"Die Vignettenmethode mit Videoclips ist im quantitativen Bereich noch wenig erprobt. Es ist also auch ein Stück Methodenentwicklung", sagt Atzmüller. "Im Gegensatz zu einem normalen Fragebogen kann man in Bildern viel lebendiger, emotionaler erzählen." Das Projekt, das noch bis 2012 läuft, soll letztlich in die Ausarbeitung von Schulungmaterial münden, die Pädagogen dabei unterstützen sollen, adäquat auf Gewaltsituationen zu reagieren und sie zu verhindern.

Wahrnehmungsunterschiede

"Es ist jetzt schon deutlich, dass sich Mädchen im Gegensatz zu Burschen nicht zum Spaß schlagen", berichtet Ingrid Kromer über erste Eindrücke aus dem Peer-Violence-Projekt. "Auffallend ist auch, dass sich Jugendliche nicht deshalb prügeln, weil sie verschiedenen Ethnien angehören. Das ist oft ein Mythos. Die meisten Täter wollen einfach cool und stark sein."

"Die Gesellschaft ist sensibler gegenüber Gewalt geworden", sagt Manfred Zentner vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien. "Deshalb werden auch mehr Gewalterfahrungen als früher registriert." Es sei jedoch zu beobachten, dass der Grad der Gewalt steigt: "Bei Auseinandersetzungen werden durchaus Verletzungen des Kontrahenten in Kauf genommen." Auf dem Vormarsch sieht er auch das Cybermobbing, das "Dissen" unter Verwendung neuer Medien. "Das führt aber sehr selten zu physischer Gewalt, sondern eher zu Autoaggression", sagt Zentner. "Im Gegensatz zum aktiven Mobbing in der Schulklasse gibt es keine Rückzugsmöglichkeiten im virtuellen Raum." (Karin Krichmayr/DER STANDARD, Printausgabe, 16.02.2011)

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Wissen: Forschung an Fachhochschulen

Das Projekt "Peer Violence" ist eines von vielen Projekten, die im Zuge des 5. Forschungsforums der österreichischen Fachhochschulen präsentiert werden. Veranstaltet von der Fachhochschulkonferenz, findet das Forum heuer am 27. und 28. April an der FH Campus Wien statt. Wissenschafter und Studierende, die an einer FH forschen, konnten Beiträge zu Bio- und Informationstechnologien genauso wie zu Gesundheit, Sozialem, Management, Technik und Mediendesign einreichen.

Die Forschungskompetenzen der seit 1994 bestehenden Fachhochschulen sichtbar machen sollen auch die drei Josef-Ressel-Zentren, die 2008 als Piloteinrichtungen gegründet wurden. Finanziert von Wirtschaftsministerium und Unternehmen, sollen vor allem Kooperationen mit der Wirtschaft gestärkt werden. (kri)