Boualem Sansal (62) ist der bekannteste, zeitgenössische Schriftsteller Algeriens, der seine Heimat nicht verlassen hat. Im Alter von 50 Jahren, mitten im blutigen Bürgerkrieg mit 200.000 Toten, veröffentlichte der ehemalige Direktor für Industriepolitik im algerischen Industrieministerium mit "Der Schwur der Barbaren"  seinen ersten Roman in Frankreich. In seiner Heimat gilt er oft als Nestbeschmutzer. Auf Deutsch sind erhältlich: "Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum"  (2002), "Der Schwur der Barbaren"  (2003), "Erzähl mir vom Paradies"  (2004), "Harraga"  (2007), "Postlagernd: Algier"  (2008), "Das Dorf des Deutschen"  (2010).

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Die traditionalistische Gesellschaft nimmt der arabischen Jugend die Luft zum Atmen, meint der Schriftsteller Boualem Sansal im Gespräch mit Reiner Wandler. Pessimismus sei auch für die Zukunft angebracht.

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STANDARD: Die Tunesier haben ganz plötzlich ihr Schweigen gebrochen und hören nicht mehr auf, ihre Erlebnisse zu erzählen.

Sansal: Das Gespräch ist die Grundlage des Menschseins. Wenn ihm das genommen wird, stirbt er. Das genau passiert in der arabischen und islamischen Welt. Es ist ein langsamer Tod, wenn man über nichts sprechen, sich nicht mit den anderen austauschen, seine Widersprüche nicht diskutieren kann. Die Menschen lehnen sich auf, wenn sie merken, dass der Tod nahe ist. Die Aufstände sind keine wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Unruhen, wie immer wieder behauptet wird: Die Menschen spüren ganz einfach die Notwendigkeit zu reden. Deshalb reagieren sie. Wie auch ein Tier reagiert, das getötet werden soll.

STANDARD: Ist es die Rebellion einer gut informierten Jugend, der jeglicher Freiraum vorenthalten wird?

Sansal: Sie sehen im Internet und im Satelliten-TV, was draußen in der Welt geschieht. Sie sind Zeugen, wie die europäische und amerikanische Jugend lebt. Sie sehen Altersgenossen, die reden, die ausprobieren, die ihr eigenes Leben leben. Und dann schauen sie sich in ihren Ländern um und merken, dass sie über nichts reden können. Das betrifft nicht nur die Politik, die Diskussion über das politische Regime, die Demokratie, sondern auch den Alltag. Sie können auch zu Hause über nichts reden. Alles dreht sich um den Respekt gegenüber Eltern, Religion, Tradition. Sie können nicht mit Mädchen oder Burschen sprechen, auch nicht mit ihren Lehrern. Die Jugendlichen stehen völlig alleine da.

STANDARD: Es handelt sich also wesentlich mehr um einen Aufstand gegen etwas als um einen Aufstand für etwas?

Sansal: Es ist eine Rebellion gegen das Eingeschlossensein. Und im Laufe der Rebellion entdeckt man dann die Möglichkeiten. Erst dann kommt die Politik ins Spiel, und es geht plötzlich gegen Ben Ali, gegen Mubarak, für die Demokratie. Aber am Anfang ist es nichts weiter als eine biologische Reaktion, ein Schrei nach Leben und gegen die Mauer, die alles umgibt.

STANDARD: Ein arabischer Mai 1968?

Sansal: Ein guter Vergleich. Die Jugend fühlt sich von der antiquierten, angepassten Gesellschaft ausgeschlossen. Das nimmt ihnen die Luft zum Atmen.

STANDARD: Die Jugendlichen erobern also ihre Unabhängigkeit von der Generation der Unabhängigkeit?

Sansal: Der Kampf um die Unabhängigkeit vom Kolonialismus lebt in unseren Köpfen als Mythos weiter. Wir verbinden das mit der Freiheit, mit der Möglichkeit, unsere eigene Identität zu leben. Das Gegenteil, nämlich die Abkapselung, wurde Realität. Ganze Generationen haben das erduldet. Jetzt ist der Moment für die zweite, die echte Unabhängigkeit gekommen. Es geht nicht mehr um die Unabhängigkeit eines Landes, jetzt es geht um die Unabhängigkeit des Individuums.

STANDARD: Auch in Algerien rebellierte die Jugend Anfang Jänner. Doch die Opposition hat die Rebellion verschlafen. Erst jetzt, Mitte Februar, mehr als einen Monat später, organisiert ein breites Bündnis Demonstrationen für einen demokratischen Wandel.

Sansal: Die Bewegung, die jetzt zu Demonstrationen aufruft, ist keine spontane Angelegenheit, wie dies in Tunesien der Fall war. Die Frage ist, ob das Bündnis auch die Jugend mobilisieren kann.

STANDARD: Dabei ist die Opposition in Algerien wesentlich strukturierter als in Tunesien.

Sansal: In Algerien gibt es tatsächlich mehr sichtbare Strukturen aus Parteien und Verbänden. Doch die Jugendlichen haben Angst davor, dass sie politisch manipuliert werden. Die Parteien in Algerien sind keine echten Parteien. Sie stehen im Ruf, mit der Aristokratie des Systems im Kontakt zu stehen. Aber es gibt auch unsichtbare Strukturen. In jeder Straße hängen die Jugendlichen herum, sie " stützen die Wände" , wie man bei uns sagt. Sie diskutieren, sie tauschen sich aus, sie bilden informelle Strukturen. Die gesamte algerische Jugend ist auf diese Art und Weise vernetzt. Sie reden über Rebellion, über das, was sie anderswo sehen.

STANDARD: Aber diese Strukturen der algerischen Jugend haben bisher nur spontane, lokal oder regional begrenzte Aufstände hervorgebracht und keinen Flächenbrand wie in Tunesien.

Sansal: Algerien ist sehr groß, und vor allem ist Algerien kein wirklich einheitliches Land. Die Berberregion Kabylei ist ein Land im Land. Das gleiche gilt für die Region rund um Algier, für Oran, den Süden, den Osten, etc. Wenn etwas in Oran passiert, interessiert das die Menschen in Algier kaum und umgekehrt. Die Einheit, das Nationalgefühl der Algerier, ist nicht so ausgeprägt wie in Tunesien. Hinzu kommt die linguistische Aufspaltung Algeriens. Wir definieren uns als arabisch sprechend, francophon oder sprechen die Berbersprache.

STANDARD: Ist das aber nicht auch der Fehler der Opposition? Ihr ist es nicht gelungen, diese regionalen Unterschiede zu überwinden, das Land als solches zu mobilisieren.

Sansal: Sicher, die Opposition ist ein Ausdruck dieser zersplitterten Realität. Es ist sehr schwierig, eine nationale Oppositionspartei ins Leben zu rufen. Das ist das Fatale an Algerien.

STANDARD: Bis auf die Islamisten. Sie waren in den 1990er Jahren eine wirkliche nationale Kraft.

Sansal: Die Islamisten sind keine Ausnahme. Am Anfang war es eine romantische Bewegung, die an das goldene Zeitalter des Islam glaubte. Doch sie haben ganz schnell gelernt wie die anderen Parteien zu funktionieren. Auch sie zerfielen intern in Strömungen, Regionen, Interessengruppen. Heute haben wir zwei islamistische Parteien: Ennahda, die sich im Osten rekrutiert, und MSP-Hamas, deren Führer alle aus Blida, unweit von Algier, stammen.

STANDARD: Die Machthaber in Algerien scheinen gelernt zu haben mit den immer wieder aufflammenden, spontanen, isolierten Aufständen zu leben.

Sansal: Die ehemalige Einheitspartei FLN, die das Land in die Unabhängigkeit geführt hat und bis heute regiert, kennt das Land sehr gut. Sie kennen die regionalen Unterschiede genauestens. Mit diesem Wissen halten sie sich an der Macht. Hinzu kommt, dass die eigentliche Macht in Algerien seit dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich unsichtbar geblieben ist. Die FLN funktionierte im Untergrund ohne große, bekannte Führer. Das ist bis heute so geblieben. In Algerien trifft eine Gruppe der Mächtigen im Hintergrund die Entscheidungen. In einem modernen Staat ist es eigentlich unerlässlich, dass die Menschen die Entscheidungsträger kennen, dass diese sichtbar sind. Der moderne algerische Staat ist nur die Fassade. Dahinter steckt noch immer dieses Kollektiv, die klandestine Gruppe.

STANDARD: Sie sprechen von den Generälen der Armee?

Sansal: Das sind nicht nur die Generäle. Das sind alle möglichen Interessensgruppen: Clans, große Familien, Verbände und Organisationen, Regionalfürsten. Ohne das Einverständnis all dieser Gruppen kann die Regierung nicht wirklich etwas entscheiden. In Tunesien war das einfacher, da gab es einen Clan, den von Ben Ali. In Algerien sind die wirklichen Strukturen für den Bürger völlig undurchschaubar.

STANDARD: Beeinflussen diese Clanstrukturen auch die Opposition?

Sansal: Sicher. Jede Partei ist in einer Region verankert, oft sogar nur in einem regionalen Clan. Selbst die Presse orientiert sich an den Interessen verschiedener Clans. Algerien ist ähnlich wie Afghanistan kein echter Staat. Es ist eine Summe aus Clans, Regionen, Hochburgen. Alles andere ist Fassade, weil man sie nach außen hin braucht.

STANDARD: Ist eine Rebellion die aus den Clanstrukturen ausbricht überhaupt denkbar?

Sansal: Ich glaube nicht, dass dies möglich ist. Jedes Mal, wenn irgendwo Unruhen ausbrechen, spielt die Macht erfolgreich die regionalen Unterschiede aus. Es ist sehr schwierig, aus einer regionalen Rebellion eine nationale Erhebung zu machen. Algerien ist innerhalb der Instabilität dank dieser Aufsplitterung sehr stabil.

STANDARD: Vor ein paar Jahren haben Sie geschrieben: "Algerien ist ein Land, das die Hoffnung verloren hat." Wenn ich Sie richtig verstehe, hat sich für Sie daran nicht viel geändert.

Sansal: Es wird Aufstände geben und Mobilisierungen, aber ohne den Mächtigen wirklich gefährlich zu werden. Sie haben dank der Erdöleinnahmen Geld im Überfluss und sind somit jederzeit in der Lage, neue Parteien, neue Organisationen, neue Minister, neue Regierungschefs und selbst neue Präsidenten zu fabrizieren.

STANDARD: Eine Revolution wie in Tunesien halten Sie also für völlig ausgeschlossen?

Sansal: Die einzige unbekannte Größe in diesem Spiel sind die Jugendlichen. Keiner weiß, was tatsächlich in ihren Köpfen vorgeht. Doch solange die Macht nicht wirklich traumatische Fakten schafft, indem sie z.B. eine große Zahl von Menschen tötet, wird der Funke nicht überspringen.

STANDARD: Boualem Sansal, pessimistisch wie immer?

Sansal: Leider hat sich mein Pessimismus bis heute stets bestätigt. (Langfassung des in DER STANDARD, Printausgabe, 12.2.2011 erschienenen Interviews)