Berlin - Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat alle Vorwürfe zurückgewiesen, sie habe nach dem Luftangriff von Kunduz aus wahltaktischen Gründen Informationen über zivile Opfer zurückgehalten. Akribisch listete sie am Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss in Berlin auf, wann sie nach dem Angriff vom 4. September 2009 die Möglichkeit ziviler Opfer eingeräumt hatte. Ihre Chronologie mache deutlich, "dass alle Unterstellungen, die Bundesregierung sei nicht an Aufklärung interessiert gewesen" oder habe diese sogar verhindern wollen, jeder Grundlage entbehrten. "Das Gegenteil war der Fall."

Zuvor hatte der zur Zeit des Angriffs amtierende Vizekanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Bombardierung auf Befehl eines deutschen Oberst eine Zäsur für Deutschland genannt. Die Informationslage über Zivilisten unter den Toten und Verletzten sei äußerst diffus gewesen. Deshalb habe er es anders als der damalige und später zurückgetretene Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) vermieden, zivile Opfer auszuschließen.

Bei dem Angriff auf zwei von Taliban entführte Tanklaster nahe der nordafghanischen Stadt Kunduz am 4. September 2009 gab es mehr als 100 Tote und Verletzte, darunter viele Zivilisten. Von US-Piloten gesteuerte Nato-Kampfflugzeuge hatten nach dem Befehl des deutschen Soldaten die Laster bombardiert. Am 27. September war Bundestagswahl.

Merkel hob vor allem eine Pressekonferenz vom 6. September und ihre Regierungserklärung vom 8. September 2009 zu dem Angriff hervor. Jung hatte zunächst zivile Opfer ausgeschlossen. Merkel berichtete, sie habe ihn am 5. September gebeten, in einem Zeitungsinterview für den Folgetag "alle Informationen in dem Interview einzubeziehen". Dazu hätten Hinweise des damaligen Oberkommandierenden Stanley McChrystal auf zivile Opfer gezählt. Jung habe die damals vorliegenden Quellen anders gewertet. In dem Interview sei er dann nicht auf mögliche Opfer eingegangen. Im Laufe ihrer Befragung machte Merkel dann allerdings deutlich, dass der Text schon im Druck gewesen sein, als sie mit Jung sprach.

Sie erklärte, bereits vor ihrer Regierungserklärung habe für sie trotz widersprüchlicher Meldungen gegolten: "Es war hinreichend klar, dass zivile Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu beklagen waren." Auf die Frage, ob eine eigenständige Untersuchung des Angriffs durch deutsche Stellen angemessen gewesen wäre, sagte die Kanzlerin, sie habe es zum damaligen Zeitpunkt für zwingend gehalten, dass die Nato die Vorgänge weiter untersuche.

Eine eigenständige Bewertung der Frage, ob der Angriff militärisch angemessen gewesen sei, habe das Kanzleramt damals nicht vorgenommen, sagte Merkel. Es habe dafür gar nicht die notwendige Expertise, zuständig sei das Verteidigungsministerium. Der Nachfolger Jungs, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), war heftig kritisiert worden, weil er das Bombardement zunächst trotz bewiesener Verfahrensfehler als militärisch angemessen bewertet hatte, später diese Einschätzung aber ins Gegenteil korrigierte: nicht angemessen.

Wie Merkel sprach Steinmeier von einem tiefen Einschnitt in die Geschichte der Bundeswehr durch diesen Angriff. Angesichts der damaligen Bemühungen um eine internationale Neuausrichtung des Afghanistan-Einsatzes und der deutschen Leitlinie, zivile Opfer möglichst zu vermeiden, sei die hohe Zahl der Toten bei dem Angriff "auch politisch kritisch" gewesen, sagte Steinmeier.

Steinmeier betonte immer wieder die unklare Informationslage über Folgen und Opfer des Angriffs. "Die Aufklärungslage war unklar, diffus und zum Teil widersprüchlich." Gewissheit über zivile Opfer habe es nicht schnell gegeben. Allerdings räumte er ein, dass es "Gewissheit in Verbindung mit abschließenden Begutachtungen (...) zu irgendeinem Zeitpunkt im September" gegeben habe. Danach sei "über die Frage, ob es zivile Opfer gegeben hat, nicht mehr ernsthaft gestritten" worden. Eine öffentliche Klarstellung der Regierung gab es aber vor der Wahl nicht mehr. Auch die Entschädigung der Angehörigen der Opfer wurde erst viel später zum Thema gemacht. (APA/dpa)