"Setzt man auf eine akademische Karriere, muss man mindestens 100 Prozent arbeiten. Für eine Familie fehlen dann Geld und Zeit."

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Eine akademische Karriere zu verfolgen grenze im deutschen Sprachraum an ein Himmelfahrskommando, sagt der Schweizer Historiker Caspar Hirschi im derStandard.at-Interview. Wie man "biographische Totalschäden" von Nachwuchsforschern vermeiden kann, über die schlechte Vereinbarkeit von Uni-Karriere und Familie und über prestigeträchtige Professorenstellen sprach er mit Katrin Burgstaller.

derStandard.at: In der Neuen Züricher Zeitung haben Sie geschrieben, eine akademische Karriere einzuschlagen käme einem Himmelfahrtskommando gleich. Warum?

Hirschi: Eine akademische Karriere anzustreben ist immer mit hohen Risiken verbunden, aber nur im deutschsprachigen Raum grenzt sie an ein Himmelfahrtskommando. Meine Erfahrungen in England haben mir diesbezüglich die Augen geöffnet. Im deutschsprachigen Raum geht es erstens sehr lange, bis es sich entscheidet, ob man an der Universität überleben kann, und zweitens ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass man überlebt. Ersteres war schon immer so, Letzteres war noch nie so extrem.

derStandard.at: Warum haben Sie sich für eine akademische Karriere entschieden?

Hirschi: Diese Frage werde ich wohl nie befriedigend beantworten können. Ich komme aus einer bildungsfreundlichen, aber nicht bildungsversessenen Familie, das wirkt bis heute sinnstiftend. Dann hatte ich von Kind auf eine große Debattierlust, die ich aber erst an der Universität richtig ausleben konnte und noch immer kann. Hinzu kommt der naive, aber überlebenswichtige Glaube, dass ich es schon schaffen werde. Die größte Rolle spielten aber wohl wissenschaftliche Förderer, vor allem mein Patenonkel, der als privatisierender Kunsthistoriker zugleich meinen Blick für die steilen akademischen Hierarchien geschärft hat.

derStandard.at: Wann entscheidet es sich, ob man in diesem System überlebt oder nicht? Wovon hängt das ab?

Hirschi: In Deutschland entschiedet sich das spätestes mit 50, weil man von da an kaum mehr verbeamtet werden kann. Für Gescheiterte stellt sich dann die Frage, ob sie sich mit befristeten Stellen weiter durchhangeln können oder ob sie ganz herausfallen. Es ist keine schöne Wahl. In der Schweiz verabschieden sich die meisten nach der Dissertation, weil der Arbeitsmarkt für jüngere Leute noch durchlässiger ist. Die Anzahl an Schweizern, die sich als PostDoc versuchen, geht zurück. In Amerika und Großbritannien lohnen sich solche Versuche mehr, weil man sich bereits nach der Dissertation für unbefristete Stellen bewerben kann.

derStandard.at: Man sagt, zwischen 30 und 40 befinden sich Wissenschafter in der Rush-Hour ihrer Karriere?

Hirschi: Für Wissenschafter ist das wahrscheinlich die produktivste Phase des Lebens. Gerade in den Naturwissenschaften wird häufig betont, die Innovationskraft sei zwischen 25 und 35 am höchsten. An den Universitäten des deutschsprachigen Raumes haben Nachwuchsleute in dieser Lebensphase zwar oft viel Forschungszeit zur Verfügung, es stellt sich aber die Frage, ob sie sich bei den starken Abhängigkeiten und Unsicherheiten, denen sie ausgesetzt sind, auch den "Luxus" erlauben können, originell zu sein.

derStandard.at: Wenn man an der Universität nicht Fuß fassen kann, haben Wissenschafter das Problem, hochspezialisiert zu sein. Für die Privatwirtschaft bedeutet das oft eine Überqualifikation.

Hirschi: In der Tat, und dies betrifft nicht nur Geistes-, sondern auch Naturwissenschafter. Wer zu lange an der Universität bleibt, ohne die ersehnte Lebensstelle zu erhalten, schafft selten eine sanfte Landung. Ein befreundeter Chemiker, der sich an der ETH Zürich habilitiert hat, was nun wirklich keine schlechte Referenz ist, wurde bei Bewerbungsgesprächen in Pharmafirmen beschieden, er sei überqualifiziert. Weil er in der Schweiz keine Aussicht auf eine Fortsetzung seiner Forscherlaufbahn hatte, bewarb er sich an der Universität Cambridge – und erhielt eine Lebensstelle.

derStandard.at: Wissenschaftliche Karrieren sind gewöhnlich auch von einer hohen Bereitschaft zur Internationalität geprägt. Wie sehen Sie das?

Hirschi: Wenn man die wissenschaftspolitische Rhetorik zum Maßstab nimmt, müsste man dem zustimmen. Es kommt aber sehr darauf an, in welchem Land man arbeitet. In der Schweiz wird jungen Forschern dringend geraten, spätestens nach der Dissertation ins Ausland zu gehen, wenn sie eine reelle Chance auf eine akademische Karriere haben wollen. Ich gehöre – zumindest bis jetzt – zu den Profiteuren dieses Systems. Dank meines Forschungsaufenthalts in England, der vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wurde, konnte ich etwa eine Monographie für die "Cambridge University Press" schreiben. Viele Auslandsschweizer kommen aber nie mehr zurück, auch wenn sie gut sind, und auch wenn sie es wollen.

In anderen Staaten, etwa in Deutschland, spielt es kaum eine Rolle, ob man je an einer ausländischen Universität gearbeitet hat. Das interessanteste Kontrastbeispiel zur Schweiz ist jedoch Israel: Es gehört ebenfalls zu den wissenschaftlich produktivsten Kleinstaaten, erzielt seine Leistung aber fast nur mit "Eigengewächsen". Bei der ganzen Internationalitätsrhetorik wird gerne vergessen, dass die Forschungspolitik immer noch von den Einzelstaaten bestimmt wird – mit international beträchtlichen Folgen, wie etwa die Überproduktion von Wissenschaftern in Deutschland und die daraus resultierende hohe Zahl an deutschen Wissenschaftern in anderen Ländern zeigt.

derStandard.at: Wie sehen Sie die Vereinbarkeit zwischen einer akademischen Karriere und der Familiengründung?

Hirschi: Um die steht es schlecht, und Statistiken zeigen an, warum: In Österreich verteilen sich die 31.400 Mitarbeiter an den Universitäten auf 12.000 Vollzeitäquivalente. Das heißt, im Schnitt ist man zu knapp 40 Prozent angestellt. Setzt man auf eine akademische Karriere, muss man aber mindestens 100 Prozent arbeiten. Für eine Familie fehlen dann Geld und Zeit. In Deutschland und der Schweiz ist es nicht ganz so prekär, aber ähnlich. Entsprechend haben die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen noch keine Familie. Ich selbst bin 35, habe drei Kinder und kam bisher gut über die Runden, weil der Schweizer Nationalfonds großzügige Löhne zahlt und – noch wichtiger – weil meine Frau mit Teilzeitpensen die Hauptverantwortung für die Familie trägt.

derStandard.at: Sie haben geschrieben, Macht und Ehre sind bei einem kleinen Teil der Wissenschafter, nämlich bei den Professoren konzentriert. Welche Probleme gehen damit einher?

Hirschi: Das Sozialprestige der Professoren kann zugleich Ansporn und Dorn für den großen Rest sein. Es ist Ansporn, wenn sie eine realistische Chance haben, den Titel selber einmal zu erwerben. Es ist aber ein Dorn, wenn Mitarbeiter trotz großer Forschungserfolge im Schatten jener verbleiben, die den Titel tragen. Gerade in den Geisteswissenschaften, wo es bis jetzt an Standards zur Bewertung von wissenschaftlicher Leistung fehlt, ist das Gefühl der Möchtegern-Professoren groß, einem Willkürsystem ausgesetzt zu sein. Das dürfte auch in Österreich so sein, wo das Verhältnis zwischen den Professoren und dem übrigen wissenschaftlichen Personal noch einseitiger ist als in Deutschland und in der Schweiz: Gerade mal 6,5 Prozent der universitären Wissenschafter tragen den Professorentitel.

In Deutschland hat die sich die Schere zwischen der Anzahl an Professoren und Mitarbeitern vor allem deshalb geöffnet, weil die Deutsche Forschungsgesellschaft im letzten Jahrzehnt auf Großforschungsprojekte gesetzt hat. Die Zahl der befristeten Stellen hat deshalb rasant zugenommen, während die unbefristeten Stellen stagniert sind oder abgenommen haben.

derStandard.at: Welche strukturellen Reformen bräuchte es, damit der akademische Nachwuchs abgesichert ist?

Hirschi: Die Universitätsstrukturen sollten dem britischen System angepasst werden – unter einer Einschränkung: Es sollte nicht an der Regierung liegen, die Evaluationskriterien zu bestimmen, sondern an den einzelnen Disziplinen. 2009 – bevor der Sparhammer der Tory-Regierung eingeschlagen hat – waren an britischen Universitäten 65 Prozent der Wissenschafter fest angestellt. Während meiner drei Jahre in Cambridge ist mir nie ein Assistent über den Weg gelaufen. An den Fakultäten gibt es bei den unbefristeten Stellen drei Stufen: Lecturers, Readers und Professors. Wenn ein Professor emeritiert wird, wird seine Stelle in der Regel auf ein Lectureship zurückgestuft. Auf dieses können sich alle Akademiker mit einer abgeschlossenen Dissertation bewerben.

Wenn man die Stelle kriegt, unter Umständen bereits mit knapp 30, kann man sich bei entsprechenden Forschungsleistungen zum Reader und dann zum Professor hocharbeiten. Dieses System hat nicht nur den Vorteil, dass es kaum biographische Totalschäden und weniger wissenschaftliche Fehlinvestitionen verursacht, sondern dass Wissenschafter in ihrer produktivsten Lebensphase ohne große Gefahr originelle Würfe landen können. Vor allem aber entspricht es mehr dem Ideal einer wissenschaftlichen Kommunikation, in der Wahrheitsfragen so wenig wie möglich von Machtfragen kontaminiert sind.

derStandard.at: Der wissenschaftliche Nachwuchs muss oft den Professoren dienen?

Hirschi: Das hängt stark vom jeweiligen Lehrstuhlinhaber ab, was aber den Willkürcharakter des Systems unterstreicht. Ich hatte dank liberaler und selbständiger Chefs stets große Freiheiten und fühlte mich kaum je behindert. Wäre das nicht so, könnte ich dieses Interview nicht geben. Damit gehöre ich zu den privilegierten Unterprivilegierten. An anderen Lehrstühlen ist der Bereich des Sagbaren klein, Assistenten – nomen est omen – müssen ihren Chefs zudienen und schmälern damit oft ihre Karrierechancen. In den Rechtswissenschaften kommt es sogar vor, dass Texte von Assistenten unter dem Namen ihres Professors publiziert werden. Auch das ist nur unter den strukturellen Bedingungen des deutschsprachigen Hochschulsystems möglich, wo man, wie es eine deutsche Geschichtsprofessorin überspitzt gesagt hat, bis über vierzig in "infantiler Abhängigkeit" von Ordinarien steht. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 11. Februar 2011)