Als gebürtiger Österreicher mit syrischen Eltern, der die letzen 4 Jahre in Syrien gelebt und als Politikberater zur Unterstützung der syrischen Wirtschaftsreform für die deutsche Seite gearbeitet hat, sehe ich die jetzigen Ereignisse in der Region für die Zukunft Syriens als einzigartige Chance.

Die Ausgangssituation ist allerdings sehr schwer. Ein Regime wie jenes in Syrien fürchtet jede Veränderung, die eine potentielle Schwächung des Systems mit sich bringt. Dies ist auch der Hauptgrund, warum die Wirtschaftsreform erhebliche Verzögerungen erfährt und politische Reformen hartnäckig auf Eis liegen. Das Regime sitzt nach einer kurzen Schwächung, wegen des Abzugs aus dem Libanon 2005, nun wieder fest im Sattel und scheut nicht dies mit aller Härte zu zeigen. Das nährt die bereits tief sitzenden Ängste der Menschen vor dem Regime. Der Präsident ist beliebt und Garant für Stabilität sowie Zusammenhalt der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft. Dieses kostbare Gut der Stabilität schätzen die Syrer. Das Regime hat weiterhin keine Ersatz-Ideologie für den verflossenen arabische Nationalismus oder Panarabismus gefunden, außer vielleicht eine Art syrischer Nationalismus, der in diesen unruhigen Zeiten von Vorteil sein könnte.

Ich habe in Syrien den aufstrebenden syrischen Nationalismus gepaart mit einem entpolitisierten, gemäßigten Islam erlebt. Viele Syrer, unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, darunter auch arbeitslose Jugendliche, habe sich in kritischen Gesprächen als sehr stolz auf ihr Land und Großteils ihren Präsidenten erwiesen. Ihr Frust, der weder zu übersehen noch zu überhören ist, richtet sich allerdings gegen das herrschende Establishment, Korruption und den erdrückenden Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten und Teilhabe. Dieser Stolz verbindet sich mit einer ausgeprägten Wertschätzung der stabilen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Das ist mit ein Grund, warum der „Tag des Zorns", zu dem anscheinend überwiegend Auslandssyrer auf Facebook aufgerufen hatten, ein Flopp geworden ist. Weitere Gründe scheinen die tiefsitzende Angst vor dem Regime sowie das von Kindheit an systematisch eingeimpfte politische Desinteresse zu sein. Die Zeit ist offensichtlich noch nicht Reif und der Frust noch nicht intensiv genug, um diese Ängste und Stabilitätsbedürfnisse der Syrer aufzuheben.

Die gesellschaftliche Stabilität basiert darauf, dass das Regime seit jeher fast allen ethnischen Minderheiten und Religionsgruppen kulturelle und religiöse Freiheiten einräumt. Der aufstrebenden Nationalismus, der säkular ausgerichtet ist, sichert dies weiterhin. Ich habe das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Ethnien und Religionsgruppen als stabil empfunden, obwohl es klare Tendenzen gibt, sich voneinander abzugrenzen und vor vorgehaltener Hand Ressentiments über die Anderen auszusprechen.

Dieser Umstand hat allerdings wenig mit deren Situation in Syrien zu tun, sondern entspricht vielmehr dem instinktiven Streben nach Selbstdefinition und Abgrenzung, die alle Minderheiten auf dieser Welt gemein haben. Man darf allerdings nicht vergessen, dass wir in Syrien ein autoritäres und autokratisches Regime haben, dessen oberstes Interesse ist, seine Machtposition zu halten. Jede Einzelperson, jede Gruppierung, sei es eine politische, zivilgesellschaftliche, ethnische oder religiöse, die politische Ansprüche in Syrien stellt, wird vom Regime nicht geduldet und effektiv ausgelöscht. So ergeht es den Kurden und den Muslimbrüder. Beide Gruppierungen hatten und haben politische Ambitionen, die vom System nicht geduldet werden. Die Kurden wollen einen eigenen Staat bzw. Autonomie, die Muslimbrüder wollen bzw. wollten politische Teilhabe und gefährdeten den Säkularismus.

Der Vorfall in Hamma 1982, wo die Armee eher willkürlich tausende männliche Bewohner dieser Stadt niedergemetzelt hatte und die damit vom System generierte Schreckensangst in der Bevölkerung, steckt den Menschen noch heute sehr tief in den Knochen und scheint für viele Sinnbild dafür zu sein, wie hart, unerbittlich und grausam das Regime zuschlagen kann. Es scheint auch noch heute eine mentale Barriere für die Opposition im allgemeinen zu sein. Die Muslimbrüder konnten sich seit diesem Vorfall in Syrien nicht wieder formieren und sind heute eine zu vernachlässigende Größe. Die Kurden haben heute in Syrien keine kulturellen Freiheiten und werden immerzu drangsaliert. Andere Gruppierungen ohne politische Ambitionen, genießen jedoch weitreichende kulturelle Freiheiten, wie z.B. die Armenier, die eigene Kirchen und Schulen haben. In Kassab, eine Stadt im Nordosten Syrien nahe der Türkischen Grenze, leben viele Armenier. Dort hört man die Menschen teilweise auf den Straßen armenisch sprechen. Mit diesem säkularen, syrischen Nationalismus ist die Stabilität und Zusammenhalt der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft weiterhin gesichert. Darauf sind die Syrer stolz und möchten dies tendenziell nicht aufs Spiel setzen. Der Leim, der dieses Konstrukt zusammenhält, ist schwer zu beschreiben, liegt aber wohl auch in der Konsensorientierung des Regimes in Fragen ethnischer und religiöser Minderheiten, die keine politischen Ambitionen hegen.

Die verstärkten Ängste innerhalb der christlichen Minderheit in Syrien sind allerdings nicht zu übersehen, diese sind aber wohl der wachsenden Anzahl von Menschen geschuldet, welche die wertebewusste Lebensweise und den unpolitischen Islam für sich wiederentdeckt haben. Dieses Wiederentdecken frühe ich auf die in den letzen Jahren zunehmenden Konsumorientierung, zunehmende soziale Missstände, wirtschaftliche Zwänge und damit auch gesellschaftliche Verhärtungen zurück, die u.a. durch die wirtschaftlichen Öffnung merklich verstärkt wurden. Das Regime scheint dies eine willkommende Entwicklung zu sein, da es hier nicht gegensteuert, im Gegenteil, es scheint die Entwicklung zu fördern. Das Kalkül könnte wohl in der Hoffnung liegen, dass die Menschen lieber Trost im Islam suchen, als ihren Frust gegen das Regime zu richten. Ein Kalkül, welches mit hohen Risiken verbunden ist, da es schnell außer Kontrolle geraten könnte und säkulare Ansprüche unterminieren könnte. Es zeigt allerdings, wie eifrig das Regime versucht seine Machtposition zu halten. Auch zeigt es, dass sich der Sicherheitsapparat des Regimes weiterhin so stark und selbstbewusst wähnt, diese abenteuerliche Entwicklung steuern zu können.

Was heißt das nun für Syrien angesichts der Entwicklungen in Tunesien, Ägypten, Algerien, Jordanien und Jemen?

Der Syrische Präsident ist in die Offensive gegangen und hat im Wall Street Journal ein Interview gegeben, wonach er weitere Reformen ankündigt. Im selben Zuge erläutert er ausführlich, dass diese Reformen mehr Zeit brauchen. Er schein zu ignorieren, dass ihm aber gerade Zeit zum Verhängnis werden könnte. Wenn er Intelligent genug ist und seine Riege im Griff hat, dann könnte er dieses Momentum nutzen, um sich weitere Sympathien im Volk zu sicheren, indem er jetzt merkliche politische Reformen einleitet, wie z.B. Aufhebung des seit 1963 aktiven Ausnahmezustandes sowie die Stärkung des Parlamentes. Seine Argumentation, dass erst die wirtschaftlichen vor den politischen Reformen umgesetzt werden müssen, war vielleicht anfangs wirksam und angebracht, wird aber - so fürchte ich - nicht mehr lange halten können. Es ist an der Zeit die nachweislichen Erfolge der wirtschaftlichen Reformen mit politischen zu koppeln.

Die Syrer verstehen zunehmend, dass eine funktionierende soziale Marktwirtschaft, welche das deklarierte Ziel des Regimes ist, auf demokratische Entscheidungsfindungs- und Aushandlungsprozesse aufbaut. Die von ihm angekündigten Wahlen auf Gemeindeebene sind sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, scheinen aber unter den momentanen Zeichen der Zeit eher eine Zierde zu sein. Mehr als zehn Jahre hat es gedauert (Bashar Al Assad hat die Macht von seinem Vater im Jahr 2000 geerbt) sowie der Fall Ben Alis und der drohende Fall Mubaraks, dass er diese Ankündigung macht. Das nährt die traurige Befürchtung, dass auch Assad die Situation fehleinschätzt und sich und sein Regime (zu sehr) in Sicherheit wiegt.

Das Regime weiß jedoch, dass seine Tage in der momentanen Aufstellung gezählt sind, es hat auch bereits Vorkehrungen für den Tag getroffen. Allerdings weiß es nicht, wann dieser Tag kommen wird und möchte natürlich diesen solange wie möglich herauszögen, soweit die bestehende Taktik. Es sollte allerdings die Taktik ändern und die wirtschaftlichen mit politischen Reformen verknüpfen und zügig umsetzen, die den Menschen merklich zugutekommen und sich selbst damit einen Abgang mit Demütigung ersparen, so wie es Mubarak droht. Die Voraussetzungen dafür könnten jetzt nicht besser sein. Die vergleichsweise gute ethnisch/religiöse Kohäsion in der syrischen Gesellschaft, weitverbreitete syrische Nationalgefühle in der Bevölkerung, ein überwiegend beliebter Präsident, der vor allem dank der externen Feinde Israel und USA bei der Bevölkerung immerzu Pluspunkte sammelt, sowie das Verlangen nach Stabilität der Syrer sprechen für einen konkreten, zügig Zeitplan für politische Reformen und damit einen geordneten Übergang in die Demokratie.

Bilder wie in Ägypten wünsche ich mir keineswegs für Syrien, wären aber nicht zu vermeiden, wenn die Syrer einmal überfrustet ihre Geduld verlieren und der Aufschrei gegen das System kommt. Dann wird das Regime es auf solche Bilder ankommen lassen. Entwicklungen, ähnlich wie im Irak, würde ich in diesem Fall für wenig wahrscheinlich halten. Auch haben extreme islamische Strömungen in Syrien keine Basis und würden in diesem Fall kaum eine signifikante Rolle spielen. Dafür schätzen die Syrer ihre Stabilität und die Kohäsion in ihre vielfältigen Gesellschaft zu sehr. Aber auch hier quält die Frage, wer oder was würde danach kommen? Eine etablierte Opposition gibt es nicht, jegliche Formierung der Opposition wurde stets im Keim erstickt. Zudem ist die Entwicklung im Nahen Osten kaum auszumalen, wenn der immerzu propagierte, stabilisierende Faktor Syrien in der Region wegfällt.

Diese Tatsachen dürfen allerdings weder vom Westen genützt werden, um das Regime zu stützen, noch vom Regime genützt werden, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Der Westen, und im besonderen die EU, haben mit ihrer bisherigen heuchlerischen Politik bereits genug Schaden in der Region angerichtet und zeichnen sich durch ihre Unterstützung der arabischen Despoten aus sicherheitspolitischen Kalkülen für mitschuldig an der Demokratie-Abstinenz im Magreb und im Maschrek. Den fatalen Fehler, von arabischen Völkern demokratisch gewählte Personen und Parteien nicht anzuerkennen und zu boykottieren, so unappetitlich sie auch sein mögen (z.B. Hamas), sollte sich im Zuge der momentanen Geschehnisse nicht wiederholen. Die EU hat durchaus die Fähigkeit ausgeklügelte, weniger verzerrende Anreizsysteme anzubieten, als plumpe Sanktionen.

Innenpolitisch spricht in Syrien vieles für sofortige, geordnete, politische Reformen, die die weiteren wirtschaftlichen Reformen auf eine gesunde Basis stellen, die Illegitimität des Regimes beseitigen und eine Demokratie zum Ziel haben. Mit der momentanen Popularität des Präsidenten und ohne einen politisch, bedrohlichen Gegner, kann man davon ausgehen, dass er aus heutiger Sicht offene Wahlen gewinnen würde. Die Wirtschaftsreform ist an einem Punkt angelangt, wo sie ohne politische Reformen die Menschen nicht erreicht. Es sind weiterhin nur einige - meist die Unterstützer des Regimes im Umkreis der Präsidentenfamilie - die in erster Linie davon Nutzen ziehen.

Die soziale prekäre Situation vieler Syrer, Arbeitslosigkeit, Frust und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich - verstärkt durch die abnehmende Zurückhaltung der Reichen ihren Reichtum zu zeigen - ist alleine mit wirtschaftlichen Reformen zeitlich nicht mehr aufzuwiegen. Es ist zu eine Frage der Zeit geworden, wann der Frust der Syrer größer wird als die Angst vor dem Regime und ihrem Bedürfnis nach Stabilität. Dies sowie die Ereignisse in Tunesien und Ägypten erzeugen einen enormen Druck auf das Regime und schalten die Uhr auf sehr kurz vor zwölf. Es bleibt zu hoffen, dass die Gunst der Stunde vom syrischen Präsidenten erkannt wird und er es den Syrern zukünftig erspart auf die Straße zu gehen. Die Zeichen deute ich allerdings als diesbezüglich enttäuschend. (Anas Saedaddin)