Zunächst schien es der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: Als der Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange im August vergangenen Jahres nach Stockholm reiste, hatte er die legendäre schwedische Pressefreiheit mit ihrem starken Informantenschutz im Blick. Im liberalen Schweden wollte Assange die Zentrale seiner Enthüllungsplattform aufbauen. Doch seit ihn die schwedische Staatsanwaltschaft wegen Vergewaltigungsverdachts jagt, brandmarkt Assange schwedische Liberalität als bloßen Firnis.

In Stockholm soll er wegen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe vernommen werden. Die schwedischen Behörden ermitteln seit August wegen des Verdachts der "Vergewaltigung in einem minder schweren Fall" sowie wegen sexueller Belästigung und Nötigung. Es ist ein Ermittlungsverfahren - eine Anklage liegt nicht vor.

Es sickerten auch Einzelheiten aus den Ermittlungsakten durch. Fast 100 Seiten, ursprünglich ein Fax des schwedischen Assange-Anwalts Björn Hurtig an seine britische Kollegin Jennifer Robinson, wurden ins Internet gestellt.

Assange soll demnach zunächst einvernehmlichen Sex mit zwei schwedischen Frauen gehabt haben, er soll in beiden Fällen jedoch gegen deren ausdrücklichen Willen ohne Kondom sexuell aktiv geworden sein.

Eine Frau beschuldigt ihn, er habe sich ihr nach einem ersten sexuellen Kontakt erneut genähert, während sie schlief - eine Handlung, die nach schwedischem Recht als Vergewaltigung gewertet werden kann. Schließlich habe sie nachgegeben, weil sie keine Lust mehr gehabt habe, auf ein Kondom zu drängen.

Eine zweite Frau gibt an, Assange habe absichtlich ein Kondom beschädigt. In den Unterlagen findet sich ein Untersuchungsbericht, wonach das Kondom "auseinandergerissen" sei.

Debatte über Grauzonen

In Schweden, bekannt für die Verteidigung individueller Selbstbestimmung, ist anlässlich des Falles eine Debatte über Grauzonen zwischen Freiwilligkeit und Zwang im sexuellen Miteinander entbrannt. Assange selbst weist die Vorwürfe als Teil einer Schmierenkampagne zurück. Im Fall einer Auslieferung nach Schweden könnte er nach Darstellung seiner Anwälte in die USA überstellt werden, wo ihm Folter oder gar die Todesstrafe drohe. Jüngst forderte der gebürtige Australier die australische Premierministerin Julia Gillard auf, ihn zum Schutz vor Todesdrohungen nach Australien zurückzuholen. (Anne Rentzsch aus Stockholm/DER STANDARD, Printausgabe, 8.2.2011)