Wien - Ob an Tenor Neil Shicoff ein großer Staatsoperndirektor verloren gegangen ist (er war jener von der Kulturministerin abgeschmetterte Kandidat von Ex-Bundeskanzler Gusenbauer), wird man nie erfahren. Dass, sofern er statt Dominique Meyer Direktor geworden wäre, der Szene ein großer Sängerdarsteller (frühzeitig) abhanden gekommen wäre, ist nun aber wieder bühnenwirksam Gewissheit geworden.

Eben dieser Charaktersänger ließ sich bei der Wiederaufnahme von Benjamin Brittens Billy Budd zwar als hustengefährdet ansagen. Wie Shicoff jedoch mit der für ihn typischen intensiven Differenziertheit die Gewissens- und Entscheidungsqualen von Kapitän Vere verlebendigte, der aus Gründen der Borddisziplin den im höheren Sinne unschuldigen Billy hängen lässt, rückt diese Ansage in den Rang einer luxuriösen Selbstberuhigungs-Maßnahme.

Wer weiß. Hätten sich auch alle anderen Ensemblemitglieder dieser Aufführung im Placebosinne ansagen lassen, die Qualität der Aufführung wäre womöglich gar nicht mehr auszuhalten gewesen. Zu erleben war nämlich eine formidable kollektive Leistung - und dies in einer nach wie vor wirksamen, also intakten Inszenierung von Willy Decker.

Allen voran Adrian Eröd, der seinerzeit schon in der freien Szene Billy war (Neue Oper Wien): Als Inbegriff vital-integrer Jugend bezirzt er die Matrosenwelt, was ihm auch zum Verhängnis wird. Denn jener, dem es Billy besonders angetan hat, Claggart (souverän Peter Rose), verwandelt Zuneigung in Destruktion und zettelt gegen Billy eine Intrige an. Nicht zuletzt traf auch Dirigent Graeme Jenkins den zwischen dramatischer Zuspitzung und sensibler Umgarnung der Figuren changierenden Wellengang der Partitur. So wurde dem reinen Männerstück ungeteilte Zustimmung zuteil. (Ljubiša Tošić, DER STANDARD - Printausgabe, 7. Februar 2011)