Ein Dandy, von Stalins Schergen als "Monarchist" gebrandmarkt: Daniil Charms in einer eigenen Federzeichnung (1925).

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Wien / St. Petersburg - Lange Zeit schien der Triumph Stalins über die russische Avantgardekunst ein vollständiger zu sein. Dichter wie der Exzentriker Daniil Charms (1905-1942), ein Dandy in englischen Kniehosen, der absurde Prosastücke und Szenen meist für die Schublade schrieb, wurden auch in den zögerlich einsetzenden Tauwetterperioden unter Chruschtschow oder Gorbatschow kaum rehabilitiert.

Charms' Texte waren, von ein paar Kinderbüchern abgesehen, während sechs Jahrzehnten Schmuggelgut und Bückware. Sie kursierten in Zirkeln der "Samisdat"-Kultur, wurden händisch vervielfältigt und in Oppositionellen-Kreisen anerkennend herumgereicht. Charms, der während der Belagerung von Leningrad 1942 zur "Gefahr für die Allgemeinheit" erklärt worden war, starb in der Nervenheilanstalt, ohne dass die genaueren Umstände seines Todes jemals zufriedenstellend geklärt worden wären.

Die stalinistische Vernichtungspolitik zerstörte nicht nur das Leben von Millionen: Ihre Kulturverweser löschten auch die Datenbanken der Überlieferung. Vom Brüchigwerden der Welt, vom Verschwinden des "gesunden" Menschenverstands aus dem totalitären Alltag handeln auch Charms' Miniaturen. Fünf kleine Stücke und zehn Prosaskizzen des Petersburger Sonderlings hat Regisseurin Andrea Breth in ihr Dramoletten-Potpourri Zwischenfälle gepackt, das morgen, Samstag, 19.30 Uhr, im Wiener Akademietheater Premiere hat.

Daniil Charms, dessen Leben die Wissenschafterin Gudrun Lehmann vor kurzem eine umfangreiche Biografie gewidmet hat (Fallen und Verschwinden, Daniil Charms - Leben und Werk, verlegt bei Arco), war ein absichtsvoll Strauchelnder. Träumten die Vertreter der frühen russischen Avantgarde noch von einer umfassenden Beschleunigung aller Lebensverhältnisse, drosselten Charms und dessen Mitstreiter in der Dichtervereinigung Oberiu mit voller Denkkraft das halsbrecherische Tempo.

Der Horizont der "Oberiuten" war ein dezidiert mystischer; die Praktiken der Gruppe muten aus heutiger Sicht alchemistisch an. Im Wege der Versenkung, durch eine unerhörte Verfeinerung der Wahrnehmung sollten Übergänge in das Reich der Unendlichkeit geschaffen werden.

Klippen der Verständigung

Charms' Dichtungen stecken voller Paradoxa: Sie zeigen, wie die einfachsten Rituale der Verständigung an unvorhersehbaren Hindernissen scheitern.

Dieser verspielten Literatur der kleinsten Schritte eignet etwas kindlich Anarchisches. Und so nimmt es nicht wunder, dass Charms, in Ermangelung anderer, ernsthafter Publikationsmöglichkeiten, als bedeutender Beiträger für die sowjetische Kinderliteratur hervortrat: so zum Beispiel als Lyriker, der die Aufmärsche der Jungpioniere in Zahlenkolonnen "verherrlichte" - und damit den Sowjetkult der Masseninszenierungen mit nüchterner Feder verspottete: "Vierzehn mal / Vier, / Und noch mal vier". Gedankenvoller Zusatz: "Aus."

"Aus" war es mit Charms noch nicht einmal dann, als das bolschewistische Regime Ende der 1920er die Direktiven ruckartig verschärfte und die Kulturschaffenden unter Kuratel stellte. Bereits 1931 machte die Geheimpolizei bei Charms ihre Aufwartung, beschlagnahmte unschätzbares Material und verbannte den unterhaltslosen Dichter in die Provinzstadt Kursk. Er, den die Anklage "als Feind der Sowjetmacht und Monarchist aus Überzeugung" praktisch zu Tod oder Lager verurteilt hatte, kam noch einmal glimpflich davon.

Die lange Agonie eines aus allen Lebenszusammenhängen Herausgeschleuderten konnten auch die Interventionsbemühungen seines Vaters, eines Philantropen in der Tolstoi-Nachfolge, letztlich nicht aufhalten. Es scheint indes, als habe Charms selbst noch an seinem Verschwinden mitgearbeitet. (Ronald Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 4.2.2011)