Foto: Buchcover

In dieser an Redundanzen und an Individualität vorgaukelnden Moden und Trends reichen Zeit tut man (auch als Rezensent) gut daran, nicht auf die Meinung der Kollegenschaft zu schielen oder zu spekulieren. Im Fall dieses Buches verkündet die Fama allerdings auch ungefragt bewundernden Beifall.

Oxygen, Sauerstoff, heißt der Roman im Original. Ganz anders in der deutschen Übersetzung. Glück, so suggeriert der Titel nun doch (und wir sind gerne bereit, dem Glauben zu schenken), ist uns so lebenswichtig wie der Sauerstoff.

Wer auch immer den neuen Titel gegeben hat, kann sich darauf berufen: Es handelt sich um die fast wortwörtliche Wiedergabe einer Zeile aus dem Text (S. 236). Sie ist dem Liebesbekenntnis des alternden László Lázár entnommen, dem seit dem Ungarnaufstand im französischen Exil lebenden Dramatiker, der darin seinem noch recht jugendlichen Lebensgefährten Kurt brieflich Abbitte leistet für eine unangekündigte Abwesenheit, eine Abwesenheit, die freilich nicht Untreue gegen Kurt zum Grund hat, sondern vielmehr der Fürsorge entspringt. Denn Laszlo begibt sich mit gefährlichem Auftrag nach Budapest, um damit eine Scharte auszuwetzen, die sein Selbstgefühl seit Jahrzehnten überschattet. Jetzt erst ist er befreit und wirklich frei für Kurt. "Aber ist das nicht bloß eine Nebenhandlung des Romans?", werden die fragen, die den Roman bereits gelesen haben. Gegenfrage: "Wo ist da eine Haupthandlung im üblichen Verständnis zu finden?"

Miller hat eine knappe Hand voll Personen gewählt, aus deren Blickwinkel er den Roman fortschreibt. Fortschreibt und nicht im eigentlichen Sinn entwickelt. Szene reiht sich an Szene in ständigem Wechsel der Perspektive. Da ist die alte Schuldirektorin Alice, die den Krebstod vor Augen hat; da sind ihre beiden so verschiedenen Söhne Larry und Alec; und da ist Lázár, dessen Werk Alec akribisch und hingebungsvoll ins Englische überträgt. Ebenso gut hätten aber andere Personen noch hinzukommen oder, anstelle von Lázár, die Krankenpflegerin von Alice einen Part bekommen können. Oder Larrys Frau. Oder deren gemeinsame Tochter. Oder (um den engen Familienkreis noch weiter zu öffnen, als dies durch die Person Lázárs geschieht) Kurt oder ein alter mit Lázár befreundeter Maler, der auch in einer Krise steckt.

Miller verleiht den handelnden Personen keine eigene Erzählstimme, kein "Ich". So sehr er damit Macht über sie beweist, so sehr zeigen sie sich doch als gläserne Monaden, die sich dem Zugriff auch wieder entziehen. Sie werden nie zu Geschöpfen des Autors. Sie wirken präzise recherchiert, fast objektiviert. Andrew Miller zeigt dabei eine gelegentlich wirklich erstaunenswerte Beobachtungsgabe, dementsprechend entwickelt er seine Figuren auch mehr über äußere Gegebenheiten und Ereignisse als über Reflexionen oder innere Dispositionen.

Dabei zeigt er große Einfühlung, ohne seine Protagonisten zu schonen, und so wandelt sich für die Leser Präzision in Authentizität. Das ist eine bemerkenswerte Stärke des Buchs. Und umso weniger ist daher auch der geradezu spekulativ wirkende, thematische Rundumschlag zu verstehen. Miller hat nichts ausgelassen, er hat seinen Roman thematisch überladen: Krebs, Tod und Lebensangst, kindliche Neurosen, die ungleichen Brüder, Pornografie, Homosexualität, Terrorismus, Selbstmord, Politik (Ungarnaufstand und der Krieg im Kosovo) u.s.f.

Am Ende wird man den Verdacht nicht los, dass der Autor seinen Protagonisten zu wenig traut oder sie ihm selbst ein Stück weit fremd geblieben sind und er sie deshalb immer neuen Prüfungen und Problemen aussetzen muss. Sie schnappen nach Luft, sie schnappen nach Glück. Aber das "Galück" ist eben ein Vogerl, das sich so wenig erzwingen lässt wie der "perfekte" Roman. (DER STANDARD, Printausgabe vom 10./11.5.2003)