Gormley-Suchen – und -Verkleiden ist diesen Winter am Arlberg ein beliebtes Spiel.

Foto: mondschein.com

Oder posieren mit dem Gormley-Mann.

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Britische Gäste fallen seltener auf die Eisenmann-Spaßerklärungen herein.

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Jaja, stimmt eh: Im Nachhinein hat man es dann ohnehin gewusst. Oder muss zumindest so tun, als ob. Schließlich ist man ja a) kein totaler Banause. Und hat b) natürlich auch die Zeitungen gelesen. Insbesondere c) die eigene. Weil: Die Geschichte von den 100 ehernen Männern in der Landschaft ist auch dort ja groß gespielt worden. Mehrfach. Und abgesehen davon: Wer Anthony Gormley ist, was er tut und woran man seine Arbeit erkennt, weiß man als kulturafiner Zeitgenosse natürlich in jeder Lebenslage – auf den ersten Blick und sogar dann, wenn die Region und die Situation nicht zwingend die Assoziation "Ah, bildende Kunst!" hervorruft. Also auch beim Skifahren. Irgendwo im Backcountry am Arlberg: Was, wenn nicht Gormley-Figuren können denn diese aufrecht mitten im Gelände stehenden Dinger sein, auf die man da immer wieder trifft? Murmeltiere halten schließlich Winterschlaf. Und sind ein bisserl kleiner.

Aber da man sich – und auch die Kunst – ja immer zwei Mal trifft, konnte ich dann am nächsten Tag jenes Spiel spielen, das meine Begleiter auch mit mir gespielt hatten: "Was ist denn mit dem dort?" hatte ich nämlich gefragt, als ich da mitten in einem doch halbwegs entfernten und nicht zwingend sicher wirkenden Schneefeld einen regungslos dastehenden Mann sah – und mit dem Stock hinüber gezeigt. Meine Begleiter hatten ahnungslos getan:

"Keine Ahnung."
"Schaut irgendwie komisch aus."
"Ist der allein unterwegs?"
"Schaut aus, als ob er was sucht."
"Ja, oder wen."
"Lawine oder Rutschung ist da aber keine abgegangen."
"Na immerhin."
"Oder er hat die Orientierung verloren. Sicht ist ja auch eher mäßig."
"Naja, wenn er ein Problem hätte, würde er signalisieren."
"Und er keine Ahnung hat, wie das geht?"
"Ok, wir fahren rüber."

Starrer Starrer

Während wir berieten, bewegte sich der Mann am Horizont keinen Millimeter. Reglos und unbeweglich stand der da – und starrte hinunter. Auf die Nebelsuppe, die an diesem Tag ein paar hundert Höhenmeter unterhalb seiner Position wie ein weißer See über dem Tal lag. Er reagierte nicht, als ich winkte. Zuckte mit keiner Schulter, als ich rief. Und verharrte starr und stur, als wir unseren feinen Powderhang "opferten" und zu ihm hinüber querten: Irgendwas, spürte und sah ich beim Näher kommen, stimmte mit dem Knaben nicht. Und zumindest damit hatte ich Recht.

Denn als ich dann bei dem mutmaßlich Hilflosen abschwang, war ich natürlich der Depp: Die anderen grinsten mich an, klopften dem Mann am Hang kumpelhaft auf Rücken und Schulter, fragten ihn nach seinem Befinden – und stellten mir den rostbraunen Gesellen dann formell vor: "Anthony Gormley. Ein Brite am Arlberg. Wenn er bloß könnte, würde er dir jetzt sicher die Hand schütteln und sich für deine Besorgnis bedanken." Aber da die mannshohe Stahlfigur keine Anstalten machte, sich zu bewegen, beschränkten sie sich auf Gormley-Fotos. Mit dem "Neuen" – also mir – ebenso wie mit allerlei Ausrüstung und in allerlei (nicht immer ganz jugendfreien) Positionen. Und verrieten mir auch erst später, dass es fast jedem, der ohne Vorwarnung hier am Berg auf seinen ersten Gormley stößt, zunächst ähnlich gehe. Aber ich könnte mich ja anderntags sicher revanchieren: Mit irgendeinem Unwissenden würde ich sicher in den nächsten Tagen noch hier unterwegs sein – und da am Arlberg genau 100 der eisernen Figuren aufgestellt seien, würden wir für den schon auch einen eisernen Mann finden.

Gormley-Suchen

Gormley-Suchen ist diesen Winter am Arlberg ein beliebtes Spiel. Und auch wenn die 100 Gussfiguren, die der renommierte britische Künstler im Herbst hier auf exakt 2039 Meter für zwei Jahre in die Landschaft stellte, in der Kunstwelt und im Feuilleton intensiv besprochen und kommuniziert wurden, ist das erste Treffen – auch bei jenen Gormleys, die man vom Lift aus oder am Pistenrand sieht – oft Anfang eines Ratespiels. Und es ist ähnlich jenem Spiel, bei dem Skilehrer, Bergführer und andere böswillige Berggeister Ahnungslosen die an manchen steilen Hängen aus dem Boden ragenden, gekrümmten Rohre mit dem Brustton der Überzeugung und allen Ernstes als "Gämsenfütterungsanlage" verkaufen. (Nebenbei: und damit oft durchkomme. Diese Erklärung war einmal – zumindest kurz – auch auf Wikipedia zu finden, tatsächlich handelt es sich um Rohre, mit denen per kontrollierter Gasexplosion Lawinen gesprengt werden können): Die falschen Deutungen machen am meisten Spaß.

Die schrägste Gormley-Erklärung, die ich hörte (etwa in Gondeln oder auf Hütten), lautete, dass die lokalen Touristiker an Stellen, an denen Skifahrer tödlich verunglückt seien, die Rost-Männer aufstellen lassen hätten. So wie Kreuze an der Bundesstraße oder weiße Ghost-Bikes für Rad-Tote in manchen Städten. Und weil kein Deutscher, Niederländischer oder heimischer Skitourist die Autorität von Guides oder Hüttenpersonal hinterfragt, kam da nie die Gegenfrage, ob es nicht saublöd sei, wenn Tourismusverbände ihren Gästen ein irdenes "memento mori" mit auf den Weg gäben. (Dass die Gormleys alle auf gleicher Höhe stehen, stört diese These erst, wenn man einige abgeklappert hat.)

Messehit Gussmann

Eine Gästegruppe, erklärte mir Markus Kegele, Chef des Hotels "Mondschein" in Stuben am Arlberg am Abend meines ersten Gormley-Encounters, fiele allerdings seltener als andere auf blöde Eisenmann-Spaßerklärungen herein: Briten. Dort so, Kegele, sei der 1950 geborene Künstler nämlich deutlich bekannter als hier – und sogar Skitouristen würden jene über 600 Kilo schweren Figuren, die ihr Landsmann schon an vielen Ecken und Enden der Welt aufgestellt hat, auf den ersten (näheren) Blick zuordnen können. Mehr noch: Bei Messeauftritten der Arlberggemeinden im englischsprachigen Raum würden jene Infostände, an denen Gormley prominent präsentiert werde, geradezu gestürmt. "Es gab auch Anfragen und zumindest Überlegungen, ob es nicht möglich sei, alle 100 Gormleys per Hubschrauber abzufliegen." Zu Fuß, lachte Kegele, wäre es zwar zumindest im Sommer sicher möglich das gesamte Projekt "Horizon Field" abzuwandern – aber wohl nur theoretisch: Der Arlberg ist schließlich kein einzelner Berg, sondern ein Gebirgsstock. 100 Punkte auf 2039 Metern zu besuchen, wäre da wohl eine zeitlich wie konditionell extrem aufwändige Tour. Schon für fitte Wanderer – und erst recht für kunstafine Halbschuhtouristen.

Ich war da noch immer ein bisserl pissed, weil mich meine Begleiter so leicht hatten auflaufen lassen können – und suchte einen Schuldigen. Oder Blitzableiter. Wieso die "Horizon Fields" nicht aktiver beworben würden, fragte ich den Hotelier – und der seufzte: Mehr als Folder oder Infoblätter auflegen – und alle paar Tage schauen, ob noch genug da seien – könnten er und seine Kollegen auch nicht. Oder würde ich erwarten, dass jeder Gast – ob an Kunst interessiert oder nicht – beim Einchecken mit einem Referat über Kunst am Berg und in der Landschaft zwangsbeglückt werde? Außerdem solle ich Gnade walten lassen: Für die Arlberger seien die Figuren schon Normalität. Sie seien ja seit dem Spätsommer da. Die meisten Gästen sähen sie auch gar nicht. "Leider." Oder sie seien sie ihnen egal. Kurz: Man habe sich dran gewöhnt – und dächte nur noch an Gormley, wenn man direkt auf ihn angesprochen werde.

Nach dem Rummel

Auch der mediale Rummel habe sich längst gelegt, sagte Kegele – und meine Verwunderung sei schon auch bezeichnend. Dafür, wie rasch man vergäße, was gestern in der Zeitung gestanden habe und wie wenig man das schon nach ein paar Wochen mit der Realität verknüpfe. Und: Auch die Diskussionen, ob die starren Männer eine Bereicherung oder eine Verschandelung der Landschaft wären, seien längst verebbt. Während der kommenden zwei Jahre, so der Hotelier, würden die Figuren so rostig wie selbstverständlich werden – und erst beim Abbau und Abtransport wieder für Schlagzeilen sorgen.

In einem Punkt, tröstete mich der Mondschein-Mann, sei ich aber nicht alleine. Auch anderswo hätten die ziemlich coolen Skulpturen manchen Uneingeweihten in Sorge versetzte: Als die eisernen Männer einst in New York auf Dächern und an anderen exponierten Orten aufgestellt worden waren, liefen eine Zeit lang bei der Polizei die Telefone heiß – weil Passanten die Figuren für Menschen hielten, die nur einen Augenblick davon entfernt wären, sich in die Tiefe zu stürzen.

Wir lachten. Und schon am nächsten Tag konnte ich den schwarzen Gormley-Peter weiter reichen: Als wir – irgendwo im Backcountry – die Hänge scannten, entfuhr einem, der frisch zur Gruppe gestoßen war, prompt ein: "Shit – schaut mal da drüben. Ich glaube, der hat ein Problem." Ich verkniff mir ein Grinsen – und spielte meine Rolle. (Thomas Rottenberg/derStandard.at/6.2.2011)