Die ungarische Literatur des 20. Jahrhunderts ist eine Wunderkiste der Weltliteratur. Noch immer sind große Entdeckungen zu machen. So erreichten die Bücher Sandor Márais, Antal Szerbs, Ernö Széps oder Deszö Kosztolányis, der Generation vor Péter Esterházy und Peter Nadás, den deutschsprachigen Raum mit jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelanger Verspätung - und der hierzulande ungerechterweise fast unbekannte László Németh wird in diesem Herbst erstmals von einem Wiener Verlagshaus auf Deutsch präsentiert werden.

Ganz ähnlich verhielt es sich mit Szilárd Rubin. 2009 erschien sein Liebesroman Kurze Geschichte von der ewigen Liebe. Das ungarische Original kam 1963 heraus. 46 Jahre - und eine gefeierte Neuauflage in Ungarn - mussten somit vergehen, bis dieses rauschhafte, hinreißende, traurige, kluge Buch den Weg ins Programm eines deutschen Verlags fand. Auch wenn mittlerweile die Berliner Dependance des Rowohlt-Verlags den Schwerpunkt mittelosteuropäische Literatur fast gänzlich geschleift hat, so liegt der Gleichgültigkeit zum Trotz nun ein zweites Buch des im April 2010 im Alter von 83 Jahren verstorbenen Rubin vor, wieder in der guten Übersetzung Andrea Ikkers.

Auch diese "beinahe alltägliche Geschichte", 1985 in Budapest erschienen, ist eine Trouvaille von Rang. Dabei ist, was Rubins Hauptfigur Levente Rostás zustößt, gewöhnlich und alltäglich. Beinahe zu alltäglich.

Es dreht sich alles um eine sehnsüchtige Liebe, die unerfüllt bleibt. Seine Beziehung zu Piroska, der Rubin keineswegs zufällig den Beruf der Zahnärztin gibt, ist ein recht grausames Jojo-Spiel bohrender Gefühle - sie sind sich mal nah, dann wieder entfernen sie sich voneinander. Dem hiervon emotional ausgelaugten Schriftsteller und Mittvierziger Levente raten seine Freunde, es zur Erholung und Abwechslung mit einer Badekur zu probieren. Er fährt ins ungarische Harkany, reist anschließend nach Karlsbad, wo er die Freunde, allesamt im Filmgeschäft tätig, anlässlich eines Festivals wiedersieht.

Am Ende geht die emotional so fragile wie fragmentarische Liebesbeziehung schließlich so aus, wie es der distinguierte ironische Titel in Aussicht stellt: Sie heiratet einen anderen, der die ganze Zeit als Hintergrundfigur präsent war. Alles beinahe also alltäglich.

Doch dieser schmale, melancholische Roman ist raffinierter. Alles reflektiert einander. Die Erzählkonstruktion mutet an, als ginge Marcel Proust ins Schwitzbad und dann ins Kino. Leventes Erinnerungen greifen wie Schleifen weit aus. Inklusive langer, kühler, kühn die komplexe Struktur von Träumen nachbildender Sätze, in denen er nie mitleidig, dafür welthaltig nachsinnt.

Welthaltig auch, weil in schlaglichtartigen Miniaturen die magyarische Alltagsgeschichte des 20. Jahrhunderts aufscheint - der Krieg, Deportation und Umsiedlung, die Verluste an Leib und Leben. Und an Lieben. (Alexander Kluy, DER STANDARD - Printausgabe, 29./30. Jänner 2011)