Michael Stavariè, "Brenntage". € 19,50 / 232 Seiten. C. H. Beck, München 2011

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"Es ist ein Rätsel inmitten eines Geheimnisses, umgeben von Mysterien; aber vielleicht gibt es einen Schlüssel." Der Satz stammt nicht aus einem Märchenbuch, sondern vom kühlen Strategen Winston Churchill, der dieses Bild am 1. Oktober 1939, genau einen Monat nach dem deutschen Überfall auf Polen, in einer Radioansprache bezüglich der ungewissen Reaktion Russlands auf den Kriegsbeginn bemühte - und es ist ein Bild, das sich in ganz anderer Art auf Michael Stavariès Roman Brenntage umlegen lässt.

Setzte sich der 1972 geborene Wiener Autor in seinem letzten vielbeachteten Roman Böse Spiele mit einem künftigen (schon gegenwärtigen?) Kampf oder vielmehr Krieg zwischen den Geschlechtern in einer Gesellschaft ohne Regeln und ohne Gott auseinander, ist es nun in Brenntage die geheimnisvolle, mysteriöse Welt einer - vielleicht nur vermeintlichen - Kindheit, von der ein namenloser Ich-Erzähler spricht.

Die Welt, das ist für den jungen Erzähler "die Siedlung", ein Ort, der, wie es Robert Walser nennen würde, "schön beiseit" ist. Zwar gibt es den nahen Wald, es gibt die Schlucht, die aufgelassenen Minen im Berg, und irgendwo gibt es eine Stadt, ein Umland, doch es scheint besser zu sein, sich davon fernzuhalten. Eine Tante spricht einmal von Häschern, denen es zu entgehen gilt, von Geistern ist die Rede; durch den Wald, der die Kinder magisch anzieht, marodieren Soldaten verschiedenster Couleurs, Überbleibende aus einem Krieg, der für niemanden zu gewinnen war. Die Bahnlinien sind zerstört, die Umwelt ist geschunden.

Es handelt sich hier allerdings um kein eindeutiges Endzeitszenario, wie es etwa Cormac McCarthy in Die Straße ausbreitet, es geht aber auch in Brenntage um eine Zeit nach einer ökologischen und gesellschaftlichen, Katastrophe, die nur angedeutet, nie benannt wird.

Durch diese Zeit des Dazwischen - das Alte ist zerfallen und das Neue noch nicht da, kommt vielleicht nie - und über die Spanne zwischen Kindheit und Erwachsensein begleitet der Leser den Ich-Erzähler. Dessen verstorbene Mutter hat vor ihrem Tod Briefe an den Sohn geschrieben, die das Kind, das beim Onkel und dessen Frau lebt, nun gleichsam aus der Welt der Toten erreichen. Der Junge wird älter, beginnt sein Leben und das der Siedlung zu dokumentieren, streift durch den Wald, um die Umgebung und die Herzen der Mädchen zu vermessen.

Besagter Onkel, der den jungen fördert, ihm gleichzeitig aber vor der Zukunft steht, ist im Buch die wichtigste, aber auch undurchsichtigste Figur. Zwar behaupten einige in der Siedlung, er habe sich "geistig übernommen", aber der Onkel verfügt über nahezu unmenschliche Kräfte, und als einer der wenigen scheint er zu wissen, was in der Vergangenheit passiert ist.

Der Onkel ist es auch, der das Ritual der Brenntage in der Siedlung einführt, einmal im Jahr, am ersten Herbsttag, schleppen die Siedlungsbewohner alles Gerümpel, das sie nicht mehr brauchen, aus Kellern, Dachböden und Häusern, um es in großen Feuern zu verbrennen. Diese Brenntage werden mit der Zeit so etwas wie der Höhepunkt des Jahres, geraten einmal allerdings außer Kontrolle und legen die Siedlung in Schutt und Asche.

Man beschließt, unter der Führung des Onkels in den nahegelegenen, aufgelassenen Minen zu überwintern und den Wiederaufbau auf den Frühling zu verschieben. Nach und nach wird nicht nur klar, dass dies keine allzu gute Idee ist, auch die Geschichte des Onkels wird langsam transparent.

Offenbar arbeitete er in den Minen, die der Siedlung einst Reichtum (Gold und Uran!) sowie Arbeitsplätze, aber auch Umweltschäden (Häuser werden vom Erdboden verschluckt), Gier, Neid und schließlich Krieg und Verwüstung brachten. Sind die Siedlungsbewohner also vielleicht keine Geretteten, sondern vielmehr Verdammte? Der Roman endet düster. In einem gespenstischen Finale unter Tag geht der Roman schließlich - wie eine Uhr, der die Batterie ausgeht und deren Sekundenzeiger eine Sekunde vor- und gleich wieder zurückspringt - in eine Endlosschleife über.

Dieses Stehenbleiben der Zeit, oder der stockende Übergang in eine neue, ist kunstvoll arrangiert - auch sprachlich. In 15 in kurze Episoden unterteilten Kapiteln schafft Stavariè mit seiner bilderreichen Sprache eine eigene, zwischen Kindheitsfantasie und Erwachsenenrealität oszillierende Erzählerinnenwelt. Schöne Wörter wie "Gesinnungsmüll", "Geräuschmerkblatt" oder "Langohrschreck" und "Schattenzahn" sind hier zu lesen. Bemerkenswert ist auch - wie schon in seinem letzten Roman - Stavariès Mut zum parabelhaften Erzählen, das durchaus auch Anleihen bei den alten Mythen nimmt.

Der Tümpel am Rand der Siedlung ist für den kindlichen Erzähler groß wie ein Meer, der Wald dunkel und das Gute nicht leicht vom Bösen zu unterscheiden. Brenntage ist daher - auch - ein Buch, das davon erzählt, welche Universen und alternativen Welten sich in kindlichen Seelen zusammenbrauen; sich daran zu erinnern kann nicht schaden. Schon auf den ersten Seiten des Romans verbrennt der Erzähler seine Stofftiere, der Onkel nimmt ihn beiseite und meint: "Viele Erwachsene bringen es nicht übers Herz, sich ihrer Stofftiere zu entledigen, du gibst eine Welt auf, weißt aber nicht, ob es für eine neue langt ... und schon gar nicht, ob du darin Halt findest!" (Stefan Gmünder, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 29./30. Jänner 2011)