Der Begriff von Krankheit wird sich in den nächsten Jahren ändern, sind Christiane Druml und Maximilian Hochmair überzeugt.

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CHRISTIANE DRUML ist Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt und Geschäftsführerin der Ethikkommission der Med-Uni Wien.

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MAXIMILIAN HOCHMAIR ist Lungenfacharzt, Spezialgebiet Onkologie, an der 1. Internen Lungenabteilung des Otto-Wagner-Spitals in Wien. Er hat eine Ausbildung in Palliativmedizin.

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STANDARD: Diagnose Lungenkrebs: Wie reagieren Patienten darauf?

Hochmair: Die meisten Patienten trifft die Diagnose nicht aus heiterem Himmel. 85 Prozent, die mit Lungenkrebs konfrontiert sind, sind Raucher und kommen mit Beschwerden. Nach Röntgen und Computertomografie wissen die meisten, dass der Verdacht auf Lungenkrebs besteht, das steht auf der Zuweisung zur Bronchoskopie. Bis zur definitiven Diagnose dauert es dann noch drei bis vier Tage.

STANDARD: Und dann führen Sie das Arztgespräch?

Hochmair: Ich führe es nicht allein, sondern zusammen mit einer speziell ausgebildeten Schwester und einer Psychologin. Wenn der Tumor operabel ist - was nur bei 25 Prozent der Fall ist -, besteht vorerst eine Aussicht auf Heilung, ansonsten müssen wir die Menschen mit der Diagnose "nicht heilbar" konfrontieren. Das ist natürlich ein großer Schock. Meist verleugnen oder verneinen Patienten dieses Faktum vorerst, danach folgt eine Phase der Verhandlung und die Frage, ob die Diagnose überhaupt stimmt. Wie schnell jemand die Krankheit akzeptiert, ist unterschiedlich. Es kann Tage, aber auch Wochen oder Monate dauern. Eine Phase der Depression gehört in diesem Prozess dazu.

STANDARD: Wann beginnt die Chemotherapie?

Hochmair: Die Therapieentscheidung hängt von vielen Faktoren ab. Da spielen vor allem die Gesamtkonstitution, Alter und Tumortyp eine Rolle. Es ist nicht mehr so, dass alle Patienten mit Lungenkrebs gleich behandelt werden. Chemotherapie ist eine mögliche Option im Gesamtkonzept. Da gibt es auch die Behandlung mit monoklonalen Antikörpern. Von dieser Therapie profitieren aber nur rund 15 Prozent, jene, die einen ganz bestimmten Rezeptor am Tumor, eine sogenannte EGFR-Rezeptor-Mutation aufweisen. In der Behandlung von unheilbarem Lungenkrebs findet derzeit ein Paradigmenwechsel statt. Ziel muss immer sein, Leid zu lindern und Lebensqualität zu erhöhen.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Hochmair: Es gibt eine Studie im im New England Journal of Medicine, die zeigt, dass Palliativtherapien die Lebenszeit von Patienten verlängern. Psychologische Betreuung, Ernährung und Bewegung sind wichtige Bestandteile der Therapie. Diese Maßnahmen haben ebenso lebensverlängernde Wirkung.

STANDARD: Dass Rauchen Lungenkrebs verursacht, ist bewiesen. Ist Rauchen-Aufhören Bedingung?

Hochmair: Nein. Ich spreche es zwar immer klar an, aber Rauchen ist eine Suchterkrankung, und viele schaffen es nicht, davon loszukommen. Das müssen wir akzeptieren.

STANDARD: Gerade bei Krebstherapie wird die Frage der Medikamentenkosten aktuell diskutiert. Besonders die neuen Antikörper sind teuer. Inwiefern soll Eigenverantwortung ins Kalkül gezogen werden?

Druml: Eigenverantwortung ist ein häufig genanntes und sicherlich berechtigtes Kriterium der Verteilungsdebatte. Die zentrale Frage ist, wer soll sie mit welchen Kriterien beurteilen? Wir wissen, dass Lebensstiländerungen nur sehr schwer umsetzbar sind, das gilt bei Übergewicht genauso wie bei Alkohol, Rauchen, aber beispielsweise auch bei Hochrisikosportlern.

Schlussendlich geht es um die Freiheit des Einzelnen. Wo endet sie? Ab wann ist die Gesellschaft gefragt, Regeln aufzustellen? In Zeiten schwindender Ressourcen in der Medizin bekommt die Problematik der Eigenverantwortung aber einen ganz neuen Stellenwert. Die Debatte ist facettenreich: Was ist mit all jenen, die vom Passivrauchen Lungenkrebs bekommen?

Auch Menschen, die beispielsweise in einer Bar arbeiten, gefährden sich. Ist das dann auch Eigenverantwortung? Bei ethischen Fragen gibt es kein Schwarz und Weiß. Deshalb ist eine breite gesellschaftliche Diskussion zu fordern.

STANDARD: Etwa zum nationalen Rauchverbot als Prävention?

Druml: Eindeutig ja. Die Gesellschaft ist aufgefordert, die Frage der Eigenverantwortung zu diskutieren. Denken Sie an die Gurtenpflicht im Auto. Auch da wurde die Einschränkung der individuellen Freiheit diskutiert. Es ist eine Frage der Zeit, bis es zum generellen Rauchverbot kommt.

Hochmair: Rauchen ist eine Suchterkrankung. Dann dürften wir Suchtkranke nicht mehr behandeln. Nur weil jemand unheilbar krank ist, ändert das an der Sucht ja nichts.

Druml: Selbstverständlich sind auch die Therapiekosten ein Thema. Im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit muss jede ärztliche Maßnahme einer Kosten-Nutzen-Bewertung unterzogen werden. Wir haben ja gerade gehört, dass nur ein Teil der Patienten auf den monoklonalen Antikörper anspricht. Bei 85 Prozent wirkt er also nicht, insofern darf man ihn auch nicht einsetzen.

Hochmair: In der Therapie gibt es eine neue Dynamik. Früher bekamen alle Patienten in etwa dieselbe Behandlung, heute findet vor der Therapie eine Art Selektion statt. Die Art der Therapie orientiert sich an Biomarkern und histologischem Typ. Aber eines möchte ich schon betonen: Beim Raucherschutz ist Österreich Schlusslicht in Europa. Verstärkte Prävention würde Krankheiten verhindern, dazu gibt es eindeutige Daten. Präventivmaßnahmen tragen insofern auch dazu bei, Therapiekosten zu reduzieren.

Druml: Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass man zielgerichtet nur jenen Therapie zukommen lässt, die auch wirklich davon profitieren.

STANDARD: Gibt es Patienten, die eine Therapie verweigern?

Hochmair: Ja, aber selten. Etwa fünf Prozent wollen keine Chemotherapie. In jedem Fall besprechen wir unterstützende Maßnahmen, dass die Symptomkontrolle wie ausreichende Schmerztherapie oder Behandlung von Atemnot wichtig sind. Viele Patienten haben Angst zu ersticken. Auch da haben wir Möglichkeiten, dies zu verhindern. Genau diese Fragen sind Teil bei einem Gespräch über palliative Therapie.

STANDARD: In der Verzweiflung hoffen aber doch viele auf ein Wunder durch neue Medikamente?

Druml: Jede Studie zu einem neuen Medikament muss im Vorfeld von einer Ethikkommission genehmigt werden. Da gibt es strenge Kriterien, der potenzielle Nutzen eines neuen Medikaments muss genauso formuliert sein wie die Nebenwirkungen.

STANDARD: Dass heißt, kein Patient ist heute ein Versuchskaninchen?

Druml: Der Ausdruck ist despektierlich. Wir arbeiten daran, dass dieses Bild verschwindet. Jede Studie wird in einem aufwändigen Verfahren begutachtet und ist über ein zentrales Register im Internet für jeden zugänglich. Transparenz hat absolute Priorität. Wer an einer Studie teilnimmt, hat volle Einsicht in das, was ihn zu erwarten hat. Die Ethikkommissionen begleiten auch. Studien sind - und das ist zu betonen - deshalb notwendig, um Therapien zu verbessern.

STANDARD: Bei manchen Medikamenten sind aber auch nur zwei Monate mehr Lebenserwartung das Ziel?

Druml: Ein Nutzen aus der Teilnahme der Studie muss immer gegeben sein, sonst dürfte sie nicht durchgeführt werden. Die Beurteilung des möglichen Nutzens kann im Einzelfall schwierig sein, dazu ziehen Ethikkommissionen Experten bei.

Hochmair: In der Praxis ist es so, dass Menschen mit Lungenkrebs im Internet googeln und dann auf eine Reihe von ganz abstrusen Therapien kommen. Wunderheiler zum Beispiel, auch Diäten zum Aushungern von Krebs gibt es. Dazu gibt es im Gegensatz zu Medikamenten gar keine Studien. Wir gehen in unserer Beratung aber schon darauf ein, vor allem, wenn sie Patienten schaden.

STANDARD: Kämpfen Patienten um jeden Tag?

Hochmair: Manchmal schon. In der palliativen Therapie arbeiten Ärzte, Pfleger, Psychologen, Seelsorger, Ergo- und Physiotherapeuten als Team mit den Patienten zusammen, und das beeinflusst die Lebensqualität und verlängert das Überleben.

Zu den Studien möchte ich aber Folgendes sagen: Ich denke, dass wissenschaftlicher Fortschritt in kleinen Schritten passiert. Seit kurzem haben wir diesen einen Biomarker, der eine gute Wirksamkeit eines Medikaments voraussagen kann. Die orale Therapie mit Gefitinib kann der Patient von zu Hause durchführen, und schwere Nebenwirkungen fehlen. Im Vergleich zur Standard-Chemotherapie ist sie besser verträglich. Ich denke, es werden andere Substanzen dazukommen, und auf diese Weise arbeitet sich die Forschung voran.

Druml: Ich denke, dass sich auch der Begriff und die Wahrnehmung von Krankheit in den kommenden Jahren ändern wird und Lebensqualität trotz Krankheit immer wichtiger in der Bewertung von Therapien werden wird.

Hochmair: Wir machen längst nicht mehr Therapie um jeden Preis. Palliative Therapie ist kein Synonym für Sterben, im Gegenteil. Es geht darum, wie wir Ärzte "unheilbar" kommunizieren.

STANDARD: Die Hoffnung bleibt aber bis zuletzt?

Hochmair: Aus meiner Sicht geht es darum, eine Diagnose, die mit "unheilbar" verbunden ist, ehrlich zu vermitteln, aber dennoch Hoffnung zu schaffen. Das geht. (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 31.01.2011)