Man kann in der vielgesichtigen Gestalt, die Viktor Orbán in den vergangenen rund 25 Jahren seiner politischen Tätigkeit verkörpert hat, viele positive und negative Eigenschaften finden. In einem jedoch werden sich Kritiker wie Anhänger des wiedergewählten Premierministers vermutlich einig sein: Feig ist er nicht. Im Gegenteil. Es bereitet ihm ganz offensichtlich sogar eine gewisse Lust, einer ganzen Front an (vermeintlichen und wirklichen) Gegnern mit Härte zu begegnen.

Der Auftritt Orbáns vor dem Plenum des Europäischen Parlaments in Straßburg - ein in mehrfacher Hinsicht denkwürdiges Ereignis, denn einen solchen Eklat gab es mit einem EU-Präsidenten noch nie - hat dies ganz deutlich vor Augen geführt. Schlichte Gemüter mag solcher Mut beeindrucken. In Wahrheit ist es aber Übermut, der Orbán treibt.

Das ist wahrscheinlich der entscheidende Unterschied zwischen dem jungen Politiker des Jahres 1989, der noch vor der Wende die Freiheit für sein Land, den Abzug der russischen Truppen verlangte, und dem gealterten politischen Schwergewicht von heute, das etwas zynisch wirkt. Mut allein reicht nicht, man muss auch klug sein - und im entscheidenden Moment von Kraftproben absehen.

Genau das hat Orbán so leider nicht bedacht, zum Schaden der Europäischen Union. Die braucht nicht noch mehr Zwietracht zwischen ihren Anführern, sondern vertrauensvollen Umgang, Respekt. Wie sonst soll die Union aus ihrer existenziellen Wirtschaftskrise geführt werden?

Der Ungar sollte in Straßburg eine relativ einfache, von der Form her sehr klar umrissene Aufgabe wahrnehmen. Als neuer Vorsitzender des EU-Rates, der die gesamte Politik der Regierungen der Mitgliedsländer mithilfe der Zentrale in Brüssel koordiniert und umsetzt, muss er den Volksvertretern Rede und Antwort stehen. Er muss aufzeigen, welche europäische Politik er zu machen gedenkt, zeigen, dass er ein Mann des Ausgleichs und des Kompromisses ist. Er muss Lösungen bringen, nicht Probleme machen.

Mit seiner Methode, den Spieß umzudrehen, Kritiker wie Feinde zu behandeln, "das Volk" in Geiselhaft zu nehmen, zu drohen, sich zum Kämpfer zu stilisieren, hat er gezeigt, dass er die Rolle nicht versteht. Die Union braucht einen Präsidenten an der Spitze, einen starken sogar, aber nicht einen Krieger. In Orbán scheint eine Lebenstragödie zu schlummern: Er ist im "Kampf gegen Kommunisten" zum Helden geworden. Heute müsste er für etwas kämpfen. (Thomas Mayer/DER STANDARD, Printausgabe, 20.1.2011)