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Foto: EPA/DUMITRU DORU

Die ist – seit es diesen „rotierenden Vorsitz“ gibt – als ein ehrenvolles Amt in der Gemeinschaft angelegt. Ein Land soll ein halbes Jahr lang seine eigenen Interessen ganz zurückstecken und im Sinne aller als „ehrlicher Makler“ tätig sein: Fair, unvoreingenommen, kreativ, seriös und unendlich fleißig soll das Vorsitzland das gemeinsame Ganze befördern, wenn nötig Streit schlichten. Oder, wenn es sich ergibt, Europa in weltpolitischen Konflikten gut vertreten.

Soweit die Theorie. Wenn an diesem Mittwoch den 19. Jänner 2011 vormittag der Parlamentspräsident Jerzy Buzek den neuen EU-Präsidenten zur Rede einladen wird (nach einer kurzen Debatte über den EU-Gipfel) dürfte es aber deutlich anders laufen als gewohnt. Denn am Wort wird Viktor Orbán sein. Der ungarische Premier ist eine der schillerndsten Figuren der Politikerklasse in Ungarn. Als „zorniger junger Mann“, der von der Uni aus die herrschenden Verhältnisse aufbrechen wollte, hatte er begonnen; stieg zum Anführer der liberalen Jungen Demokraten von FIDEZ auf; verlangte den Abzug der sowjetischen Truppen, als diese 1989 noch im Land und Ungarn nicht frei von Warschauer Pakt war; trat für Meinungs- und Pressefreiheit ein.

Fast ein Jahrzehnt lang, ab 1992 bis  2000, war er Vizepräsident der Liberalen Internationale, des Zusammenschlusses der liberalen Parteien, die kurz zuvor die FPÖ eines gewissen Jörg Haider wegen seines Sagers von der „Ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“ rausgeworfen hatten. Orban wurde Premierminister und konservativ, zunehmend national, wechselte 2002 das Lager zur  Europäischen Volkspartei, deren Vizepräsident er noch heute ist.

Dieser Viktor Orbán also, der 2010 zum zweiten Mal Premierminister wurde, immer ein tief verwurzelter Anti-Kommunist war wie auch ein überzeugter „Westeuropäer“,  lange vor dem Beitritt seines Landes im Jahr 2004, wird also im EU-Parlament auftreten – ausgestattet mit einer Zweidrittel-Mehrheit der Abgeordneten seiner Partei im Parlament in Budapest.

Man hätte also annehmen können, dass bei einer Plenardebatte eines Politikers dieses Zuschnitts viele europäische Themen zur Sprache kommen werden. Oder sogar Anstöße: Zum Beispiel, wie man die seit der Eurokrise seit einem Jahr völlig ins Hintertreffen geratenen neuen EU-Länder in Osteuropa wieder stärker ins Spiel bringen könnte. Das wäre eigentlich nötig.

Aber wie es am Vorabend aussieht, kann der Auftritt des Ungarn vor allem und beinahe ausschließlich nur ein Thema haben: das neue ungarische Mediengesetz, das in den Augen der Kritiker als geistig-kultureller Anschlag gegen die EU-Charta der Grundrechte, gegen Meinungs- und Pressefreiheit zu werten ist. Selbst in Orbans eigener Fraktion der Volkspartei gibt es leise Kritik. Aber als Generallinie hat Fraktionschef Joseph Daul, ein Franzose, ausgegeben, dass es „keine Vorverurteilung“ geben dürfe. Man solle erst die Analyse der EU-Kommission dazu abwarten.

In den anderen wichtigsten Fraktionen hingegen wird es keine Schonung oder Zurückhaltung geben: Die Hauptredner sind – auch emotional - aufmunitioniert wie selten. Martin Schulz (SP), Guy Verhofstadt (Liberale) und Daniel Cohn-Bendit (Grüne), alle leidenschaftliche Redner,  werden alle Register ziehen, um Orban und die seinen als „Uneuropäer“ vorzuführen.

So wie viele Protestgruppen in den EU-Ländern, der eine oder andere Zeitungsverband, wie mehrere Regierungen auch, werden sie all die „gefährlichen“ Passagen  in Orbans Mediengesetz aufdröseln und umgehende Korrektur verlangen. Der eine oder andere Abgeordnete wird vielleicht sogar Strafmaßnahmen gegen Ungarn einfordern. Wortreich werden die Werte und die Rechtsstaatlichkeit der Union beschworen werden. Und fast alle Fraktionen werden ihre Forderungen erneuern, wie sie in vielen Kommentaren EU-weit auch schon seit Wochen beschworen werden: Die EU-Kommission müsse „handeln“, Ungarn zu Korrekturen zwingen.

So ist die Ausgangslage. Vieles davon ist politische Inszenierung. Im Vorfeld des angekündigten Showdowns lohnt es sich daher, sich darüber hinaus die Sachlage in Erinnerung zu rufen. Besonnene Stimmen in der EU-Kommission sagen mir, dass die Kritikerfront gegen Orban in große Gefahr läuft, einerseits Orbans politischem Spiel auf den Leim zu gehen. Andererseits würden bei den Bürgern Erwartungen geweckt, die die EU am Ende des Tages nie und nimmer einhalten werde können.

Konkret: Gemäß den EU-Verträgen, und auf die kommt es letztlich an, hat die Union keine Zuständigkeit für Mediengesetze. Diese sind, ganz nach dem von den Mitgliedsländern oft und oft eingeforderten Subsidiaritätsprinzip, ausschließlich Sache der Nationalstaaten. Subsidiarität heißt, einfach gesagt, dass keine Materie auf die höhere politische Ebene übertragen werden darf, wenn die nationale das selber regeln kann. So ist das festgeschrieben.

Die EU-Charta im Lissabon-Vertrag, auf die sich die Kritiker gerne berufen, in der die Presse- und Meinungsfreiheit  als Grundrecht verankert ist, ändert daran nur wenig. Die Charta ist direkt nur auf EU-Recht anwendbar, nicht auf nationales Recht. Weil das so ist, sind bisher auch alle Versuche fehlgeschlagen, über den Umweg der EU gegen die Durchstechereien eines Silvio Berlusconi in Italien vorzugehen. Oder aus diesem Grund ist es eine Illusion zu glauben, die EU könnte jemals dem französischen Präsidenten untersagen, Fernsehdirektoren persönlich einzusetzen oder abzuschießen, wie Nicolas Sarkozy das tut.

Oder: Es ist der EU-Kommission, selbst wenn sie das wollte, nicht möglich, der österreichischen Regierung und staatsnahen Betrieben zu verbieten, sich mit der massenhaften Schaltung von teuren Inseraten in Massenblättern positive Berichterstattung zu „erkaufen“. Wenn überhaupt könnte sie das über eine Binnenmarktrichtlinie tun, die unlauteren Wettbewerb verhindern soll, aber nicht über eine inhaltliche oder meinungspolitische Zuständigkeit.

Das bedeutet natürlich keineswegs, dass die Mediengesetze des Supermachtmenschen Orban zu rechtfertigen wären, oder unantastbar. Aber man muss sich schon vor Augen halten, dass man ihm mit EU-Recht nur ganz schwer beikommen kann. Deshalb beschäftigt sich ja auch nicht die für Grundrechte zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding (die Sarkozy in der Roma-Sache den Marsch geblasen hat) mit dem Dossier Orban, sondern die für Digitale Welt zuständige Neelie Kroes. Sie soll den Nachweis bringen, dass die Mediengesetze in Ungarn die Ausübung grenzüberschreitender Pressetätigkeit behindern. Das ist ein bisschen absurd angesichts der Ernsthaftigkeit des Themas.

Orban weiß das alles natürlich ganz genau, und er spielt damit, wie es jeder begabte Populist tut. Man könnte sogar sagen, dass er seine Kritiker zum Narren hält. Seine Erklärung, er werde selbstverständlich jeder Anweisung der EU-Kommission nachkommen, jeden kritischen Punkt bei Bedarf sofort korrigieren, weist darauf hin. Orban kann davon ausgehen, dass die Kommissionmöglicherweise kritische politische Anmerkungen machen wird, aber – wenn überhaupt – nur Änderungen in Details verlangen wird, weil sie etwas anderes gar nicht kann. Das wird er dann tun – und sich als lernfähiger und lernwilliger Machthaber vorzuzeigen.

Die schwierigste Phase für die ungarische Presse und die Opposition, die kommt erst in einem halben Jahr, hat mir heute im EU-Parlament jemand prophezeit. Dann wird die ungarische EU-Präsidentschaft zu Ende sein, und niemand wird sich dann mehr für Orbans Mediengesetze interessieren. Die Aufregung heute hat vor allem damit zu tun, dass das Land Europa führen soll. Erst dann wird Orban ernst machen können mit seiner neuen Zensurbehörde. Kein schöner Gedanke.