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Depressive Menschen erkennen Schwarz-Weiß-Kontraste anders als Gesunde.

Ludger Tebartz van Elst, Leiter der Sektion Experimentelle Neuropsychiatrie der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Freiburg.

Foto: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Farben grau und schwarz werden häufig mit Melancholie und Depressivität in Verbindung gebracht. Wer etwa "Schwarzmalerei" betreibt, zeichnet ein pessimistisches Bild, befürchtet das Schlimmste. Man sagt auch, dass Depressive ihre Umwelt "grauer" sehen als gesunde Menschen. Das ist jetzt sogar wissenschaftlich bewiesen: Freiburger Forscher aus den Bereichen Psychiatrie/Psychotherapie und Augenheilkunde haben mittels einer objektiven elektrophysiologischen Methode herausgefunden, dass depressive Menschen Schwarz-Weiß-Kontraste tatsächlich anders erkennen als Gesunde - derStandard.at berichtete.

Mit dem für die Untersuchungen eingesetzten Muster-Elektroretinogramm ("pattern electroretinogram", PERG) lässt sich den Ergebnissen zufolge objektiv messen, ob ein Mensch depressiv ist oder nicht. Warum diese Diagnose bisher so schwierig war und inwiefern Depressive wirklich alles "grauer" sehen, erklärt Ludger Tebartz van Elst, Leiter der Sektion Experimentelle Neuropsychiatrie der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Freiburg, im Interview mit derStandard.at

derStandard.at: Wie erkennen Ärzte bislang, ob eine Depression vorliegt?

Ludger Tebartz van Elst: Bislang ist die Diagnose einer Depression eine klinische Diagnose. Sie wird gestellt, wenn die typischen Symptome eines depressiven Syndroms wie Antriebsstörung, Konzentrationsstörung, niedergedrückte oder reizbare Stimmung, Lust- und Freudlosigkeit, Schlafstörung, Appetitstörung, Libidoverlust etc. nachhaltig vorhanden sind und es keine andere erkennbare Ursachen für diese Symptome, zum Beispiel Alkohol- oder Drogenkonsum, endokrinologische Erkrankungen wie Hypothyreose, andere Hirnerkrankungen etc., gibt.

derStandard.at: Warum war es bisher so schwierig, eine Depression beziehungsweise deren subjektiven Zustand zu diagnostizieren?

Ludger Tebartz van Elst: Gerade weil die Diagnose eine klinische Diagnose ist und es kein trennsicheres objektives Korrelat zum subjektiven Zustand der Depression gibt, ist es schwer, die Diagnose zu stellen. Sie ist wesentlich abhängig von den Angaben und Schilderungen des subjektiven Erlebens betroffener Menschen. Was der eine aber als "deprimierte Stimmung" bezeichnet kann zumindest in der Fremdbeobachtung für den anderen der Normalzustand sein. Die Unterscheidung kann schwer sein. Auch die Bedeutung von psychoreaktiven Stressoren ist oft schwer einzuschätzen, weil viele Menschen nicht zwischen Problemen wie Stress am Arbeitsplatz oder in den Beziehungen und Symptomen wie schlechte Stimmung oder Lustlosigkeit trennen.

derStandard.at: Die von Ihnen angewendete Untersuchungsmethode basiert auf der Reaktion der Netzhaut eines Menschen auf unterschiedliche Kontraste. Es zeigte sich, dass Depressive deutlich kleinere Antwortamplituden auf der Netzhaut vorweisen, Kontraste also abgeschwächt verarbeiten. Je schwerer die Depression desto geringer der Kurvenausschlag auf der Netzhaut bei Kontrastzunahme. Was lässt sich daraus schließen?

Ludger Tebartz van Elst: Der Befund ist erstaunlich stark für neuropsychiatrische Untersuchungen. Auf Rohdatenebene können die Signale Depressiver und Gesunder unterschieden werden. Das gibt es bislang fast nie. Wenn sich die Befunde so erhärten, dann stünde mit dieser relativ einfachen Messmethode ein Instrument zur Verfügung, welches den subjektiven Zustand einer Depression "objektivieren" könnte. Den Menschen könnte also eine Messung präsentiert werden, welche den wesentlich subjektiven Leidenszustand verdinglicht und damit für den ein oder anderen auch besser fassbar macht.

derStandard.at: Wie könnte diese Messmethode für die Forschung nützlich sein?

Ludger Tebartz van Elst: Man könnte zum Beispiel mithilfe der PERG Messungen die Wirkung von Medikamenten oder psychotherapeutischen Methoden objektiv belegen und wäre nicht mehr nur auf die Angaben der Patienten angewiesen.

derStandard.at: Kann man aufgrund der Untersuchungsergebnisse bestätigen, dass Depressive wirklich alles "grauer" sehen? 

Ludger Tebartz van Elst: Nein, denn man sollte bei Netzhautsignalen noch nicht von "wahrnehmen" sprechen. Die Bildwahrnehmung entsteht wahrscheinlich erst auf Ebene des visuellen Kortex im Okzipitalhirn. Diese beruht aber auf dem Input der Netzhaut, insofern spielt die Signalverarbeitung der Netzhaut natürlich eine wichtige Rolle für die bewusste visuelle Wahrnehmung. Der notwendig subjektive Charakter der bewussten Farbwahrnehmung "grau" oder "rot" kann nie sicher objektiv eingeholt werden. Darüber denken Philosophen und Erkenntnistheoretiker schon seit Jahrhunderten nach. In der Philosophie des Geistes wurde dafür der Qualia-Begriff geprägt. 

derStandard.at: Was genau kann man sich nun darunter vorstellen, wenn man sagt, Depressive würden ihre Umwelt "grauer" sehen als Gesunde? 

Ludger Tebartz van Elst: Ich persönlich stelle es mir so vor, als wenn man ein Foto zum Beispiel mit einem Computer nachbearbeitet und dann den Kontrast des Fotos reduziert. Man sieht immer noch das Gleiche und erkennt auch die gleichen Objekte. Dennoch sind die Bilder kontrastreicher oder kontrastärmer. Wenn ein depressiver Mensch nun Bilder kontrastärmer sieht, kann er dennoch alles sehen und lesen und er ringt um Worte, um zu beschreiben, was anders ist. Die meisten Menschen wählen dann Begriffe wie "alles ist grauer", oder "verschwommen" oder "milchig" oder ähnliches. Ich persönlich glaube, dass hinter der begrifflich-metaphorischen Schilderung von Depressivität und Melancholie in grauen, dunklen oder düsteren Farben in Kunst und Literatur letztendlich diese Erfahrung als Intuition stehen könnte. Das ist aber sehr schwer zu beweisen. 

derStandard.at: Weiß man, warum Depressive Kontraste anders verarbeiten?

Ludger Tebartz van Elst: Wir gehen von einer Störung dopaminerger Zellen in der Netzhaut aus. Die Zellen, die ja Teil des Gehirns sind, könnten wie ein Fühler eine Funktionsstörung von dopaminergen Zellen im so genannten limbischen System des Gehirn funktionieren. Diese limbische System zu dem zum Beispiel Strukturen wie die Amygdala oder der "Belohnungskern" Nucleus accumbens gehören, ist bekanntermaßen eng mit der Verarbeitung von Gefühlen und Emotionen verknüpft. Dieses Erklärungsmodell ist zwar nicht bewiesen aber plausibel und kann die Befunde gut erklären.

derStandard.at: Ihre Studie wurde Anfang April 2010 veröffentlicht. Gab es mittlerweile weitere Untersuchungen, wenn ja, mit welchen Ergebnissen?

Ludger Tebartz van Elst: Wir haben inzwischen Untersuchungen an anderen Patientengruppen und weiteren Gesunden mit sehr spannenden Befunden gemacht. Wir haben auch Daten zum Verlauf des PERG-Signals nach therapeutischem Ansprechen bei Depressiven. Da diese Daten aber noch nicht publiziert sind, kann ich dazu noch nichts Offizielles sagen. (Maria Kapeller, derStandard.at, 18.1.2011)