Das verfallende Mauer-Teilstück beim Jiankou-Pass ist das Einsatzgebiet der Gruppe, ...

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...die He Wenqi (links, mit Ex-Parteisekretär Sun Baoli) leitet.

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Der Brite William Lindesay hat vor zehn Jahren die NGO Internationale Freunde der Großen Mauer gegründet.

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William Lindesays engsten Verbündeten sind sechs alte Dorfbauern.

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He Wenqi drängt bei eisigen Außentemperaturen seine Besucher, sich auf den Kang zu setzen. Das langgestreckte gemauerte Ofenbett ist der wärmste Platz in seinem Bauernhaus. Nordchinas Bauern benutzen traditionell solche Betten. He hat sich seinen Kang aus massiven rechteckig behauenen Steinen gebaut, die gut isolieren. "Jahrhunderte haben sie Wind und Wetter getrotzt" , sagt der Bauer. "Diese Steine kommen von den Gipfeln der Berge."

Das Baumaterial für seinen Kang und auch für die Ofenbetten anderer Bauern, die in dem 85 Kilometer von Peking entfernten Dorf Xi Zhazi wohnen, stammt von einem besonderen Steinbruch. In hunderten Meter Höhe zieht er sich über die Bergrücken um das Dorf. Xi Zhazi, in dem 178 Bauernfamilien leben, liegt direkt am Fuß der Großen Mauer, die über den Bergpass Jiankou (Bogenrücken) führt.

Vom Hof aus kann He die Wachtürme sehen. Als sein Dorf noch Teil einer Volkskommune war, mussten alle Bauern für Neubauten tonnenweise die schweren Steine aus den eingestürzten Teilen der Mauer holen. 1975 baute sich He daraus auch seinen Kang. "Damals war ich 30 Jahre alt und konnte zehn Steine auf einmal herunterschleppen."

Dreimal pro Woche

Heute ist He 72 Jahre alt und rührt nicht einmal einen Kiesel der 500 Jahre alten Mauer an. Er ist Leiter einer Gruppe von sechs Bauern seines Dorfes, die sich dem Schutz der Jiankou-Mauer verschrieben haben. He trägt stolz seinen Ausweis der Internationalen Freunde der Großen Mauer, eines Umweltvereins, den der in China lebende Brite William Lindesay gründete, als er vor zehn Jahren die Aktion der Mauerwächter ins Leben rief. Nach und nach füllt sich seine gute Stube. Fünf weitere alte Bauern aus der Gruppe kommen. Auch der 62-jährige Sun Baoli gehört zu ihnen. Er war einst zehn Jahre lang Parteisekretär des Dorfes. Dreimal in der Woche steigt er mit einem leeren Müllsack auf den Berg und bringt den Müll herunter, den Touristen auf der Mauer zurücklassen.

Es habe auch bei ihm lange gedauert, bis er die Mauer, die 1988 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, schätzen lernte, sagt Sun. Dabei half ihm sein 2002 begonnenes Fotografiehobby. Er habe zugleich in Gesprächen mit Lindesay, der sich 1998 ein Bauernhaus im Dorf kaufte, gelernt, die Mauer mit neuen Augen zu sehen. Für ihn sei sie heute wie ein Gürtel, "der unser Dorf mit China verbindet, sogar mit der ganzen Welt".

Orden des Empire

Lindesay nennt die sechs Bauern die "Ranger von Xi Zhazi" . Der heute 53-jährige startete mit seiner chinesischen Frau Wu Qi 1998 mehrere spektakuläre Müllsammel- und Aufklärungsaktionen. Hunderte ehrenamtlicher Helfer unterstützen den Briten, der von Chinas Regierung ausgezeichnet wurde und für sein Engagement für die Mauer auch den Orden des British Empire erhielt.

Mit elf Jahren hatte er die Mauer auf einer Karte in seinem Schulatlas entdeckt und davon geträumt, auf ihr zu wandern. 1987 erfüllte sich der Kindheitswunsch. Lindesay kam als Tourist und marschierte in 78 Tagen 2470 Kilometer entlang der Route der Mauer von Westen bis nach Osten, zu einer Zeit, als kaum Ausländer unterwegs waren. Er blieb in Peking, arbeitete als Korrektor für China Daily.

Jedes freie Wochenende radelte er los, um die 550 Kilometer langen Mauerteile um Peking zu erkunden. Sie waren nur ein Teil der 8851,8 Kilometer, die Chinas Forscher inzwischen als historische amtliche Länge der Mauer ermittelt haben. Es gab, sagt Lindesay, aber nicht eine Große Mauer, sondern 13 verschiedene Bollwerke, die vom dritten Jahrhundert vor Christus bis zur Ming-Dynastie (1368-1644) immer wieder erneuert oder weitergebaut wurden. "Die Großartigkeit der Mauer liegt in ihrer Kontinuität. Sie ist zudem das einzige Bauwerk der Geschichte, das auch geografisch in den Weltkarten verzeichnet wurde." Nur noch acht Prozent der mingzeitlichen Mauer seien gut erhalten. "Ich will mithelfen, das weltweit erstaunlichste, aber auch verwundbarste aller offenen Museen vor der Zerstörung zu retten" , sagt Lindesay. 1961 hatte Chinas Regierung die Mauer unter Denkmalschutz stellen lassen. Aber das half nur wenigen Vorzeigestellen wie bei Badaling.

Anfang der 1990er-Jahre kreuzten sich erstmals Lindesays Wege mit jenen der Bauern von Xi Zhazi. Auf einer seiner Radtouren hatte er den Jiankou-Bogenrücken entdeckt, zu dem damals nur unwegsame Landstraßen hinführten. Als Pekings Umland dann mit Autobahnen und Schnellstraßen erschlossen wurde, war kein Halten mehr. Zum Wochenendtrip zu den "wilden Mauern" transportierten die Pekinger alles an, was sie zum Picknicken, Feiern oder Campen in Zelten brauchten. Lindesay packt die Wut, wenn er darüber redet: Müll und Graffiti seien zu den schlimmsten äußerlichen Plagen der Großen Mauer geworden. Weil es keine Toiletten und keine Aufpasser gibt, erleichterten sich die Besucher in den Wachtürmen. "In vielen stinkt es bestialisch."

1998 startete er eine Kampagne, setzte auf Chinas Presse, die seine Müllsammelaktionen in die Schlagzeilen brachte. Er gewann nicht nur die sechs Bauern in Xi Zhazi für sein Mauerschutzprojekt, sondern kann ihnen mithilfe von Sponsoren monatlich heute umgerechnet 45 Euro für ihren mühsamen Einsatz zahlen. Trotz des Erfolgs bleibt der Brite skeptisch: Anfangs hätten 95 Prozent der Besucher ihren Müll zurückgelassen. "Jetzt sind es nur 70 bis 75 Prozent." Die Beschädigung der Mauer sei aber schlimmer als vor zwölf Jahren, weil sich die Zahl an Besuchern vervielfacht habe und immer mehr kämen.

Die sechs Mauerwächter aus Xi Zhazi sehen es pragmatischer. Der Besucher-Boom hat die Pachtpreise für Boden in ihrem Dorf Xi Zhazi verzehnfacht. 20 Yuan (2,2 Euro) muss jeder Tourist als "ökologischen" Eintritt zahlen. 20 Familien eröffneten Gaststätten. Drei Familien bieten Übernachtungsplätze. Einer stellte seinen alten Kang zur Verfügung. Darauf können nebeneinander elf Personen liegen. Sie haben es mollig warm, weil sie auf Steinen der Großen Mauer schlafen. (Johnny Erling aus Peking/DER STANDARD, Printausgabe, 11.01.2011)