Bild nicht mehr verfügbar.

Die polnische Bevölkerung hat, nachdem die letzten Nazis Treblinka verlassen hatten, Erde und Asche des Vernichtungslagers umgegraben, um nach Kostbarkeiten der ermordeten Juden zu suchen.

Foto: Archiv

Das Land ist empört.

Es ist ein Foto, das dem polnisch-amerikanischen Soziologen Jan T. Gross keine Ruhe lässt: Im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Treblinka bei Warschau stellen sich Bäuerinnen und Bauern zu einem Gruppenbild auf. Manche stützen sich auf Spaten. Müde, wie nach einem langen Arbeitstag, sehen sie in die Kamera. Es sind die "Goldgräber" von Treblinka, die nach dem Verlassen der letzten Nazis die Erde und Asche des Todeslagers umgraben, um die letzten Kostbarkeiten der ermordeten Juden zu finden.

Nun hat Jan T. Gross einen langen Essay zum Bild verfasst (Golden Harvest, Oxford University Press, August 2011). Schon vor seiner Veröffentlichung sorgt er in Polen für Empörung. Denn Gross wirft den Polen vor, vom Holocaust profitiert und sich schamlos am Eigentum der Juden bereichert zu haben.

Raubzüge und Plünderungen

Zwar berichteten schon andere Publizisten vor Gross über die "Goldgräberstimmung" Ende des Zweiten Weltkrieges, die hunderte von Polen in die von den Nazis verlassenen Konzentrationslager trieb, um dort nach den letzten "Kostbarkeiten" der Juden zu suchen. Beschrieben wurde auch bereits, dass die Häuser und Fabriken, die einst polnischen Juden gehörten, während und nach dem Krieg von zumeist katholischen Polen übernommen wurden.

Dass die Gestapo, die SS oder die Beamten des Nazi-Okkupationsregimes oft eine Gegenleistung für das ehemals jüdische Eigentum forderten, tauchte allerdings meist nur in einem Nebensatz auf. Diese Texte kamen ohne moralischen Vorwurf aus. Sie waren sachlich, wissenschaftlich und ausgewogen. So blieb die Auseinandersetzung um die "Goldene Ernte", wie Gross höchst sarkastisch die Raubzüge und Plünderungen nennt, bis heute aus.

Schon zweimal entlarvte Gross in den letzten Jahren einige Geschichtsmythen Polens, die mit der Realität nicht allzu viel zu tun haben. Sein schmales Buch Die Nachbarn löste 2001 die größte historische Debatte aus, die Polen jemals geführt haben. In der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne hatten 1941, direkt nach dem Abzug der sowjetischen Besatzer, katholische Polen ihre jüdischen Nachbarn ermordet.

"Entweder ihr macht das oder wir", hatte zuvor ein Deutscher in SS-Uniform erklärt. In ein paar Tagen sei man wieder da. Tatsächlich trieb die polnische Bevölkerung die jüdischen Nachbarn in eine Holzscheune, verbrannte sie und teilte das Eigentum der Opfer unter sich auf. Die offizielle Version, die auch auf einem Gedenkstein verewigt war, sprach von 1.600 Juden, die einem Nazi-Massaker zum Opfer gefallen waren. Erst Jahrzehnte später kam durch Jan T. Gross die Wahrheit ans Licht. Insgesamt gab es in der Gegend rund 30 Pogrome.

2006 sorgte Gross' Buch Die Angst erneut für eine heftige Debatte. Denn auch beim Pogrom von Kielce direkt nach dem Krieg ging es letztendlich um das Eigentum der Juden. Als die Holocaust-Überlebenden in ihre Heimatstadt zurückkehrten, fanden sie ihre Wohnungen besetzt vor. Sie wurden in das Haus an der Planty-Straße 7 einquartiert. Als ein Bub zu Hause erzählte, dass ihn Juden im Keller dieses Hauses festgehalten hätten, um aus ihm Matzenbrot zu backen, stürmten die Kielcer los und ermordeten 42 ihrer früheren jüdischen Nachbarn.

Dabei sieht Gross die Polen durchaus in erster Linie als Opfer der deutschen und sowjetischen Besatzung. Er erkennt auch die Rettung vieler Juden durch katholische Polen an. "Aber", sagt er, "dem berühmten Satz Professor Bartoszewskis, dass zehn Polen nötig waren, um einen Juden zu retten, würde ich einen zweiten hinzufügen: Die Ermordung eines Juden war nicht möglich ohne die Mithilfe vieler Personen." Gross lässt keinen Zweifel daran, dass die Haupttäter die Nazi-Deutschen waren und es ohne sie die Shoa nicht gegeben hätte. Dennoch dürfe man nicht die Augen davor verschließen, dass es Mittäter und Nutznießer des Massenmords an den Juden gegeben habe.

Grabschändungen

Die Bevölkerung rund um die Konzentrationslager habe sowohl mit dem Wachpersonal gehandelt als auch mit den Häftlingen. Alkohol, Zigaretten, sexuelle Dienstleistungen für die Wachmänner, warme Kleidung, Essen, Post und Waffen für die Häftlinge. Nach der Liquidierung der Lager und dem Abzug der Deutschen hätten sich viele regelrechte Claims abgesteckt und in Asche, Schlamm und Leichenresten nach Ringen, Goldklümpchen und anderen wertvollen Dingen gesucht. Das Wort "Grabschändung" schien kaum jemanden in den Sinn gekommen zu sein.

Piotr Cywinski, Direktor der Gedenkstätte Auschwitz, bestätigt den Handel der Bauern mit den Wachleuten und der Küche des Lagers. "Dennoch würde ich sie nicht pauschal der Barbarei anklagen", so Cywinski. "Sonst müsste man auch sagen, dass Krakau von der deutschen Besatzung und der in der Stadt stationierten Wehrmacht profitiert habe."

Kurz vor dem Überfall Polens durch die Deutschen hatte selbst die katholische Kirche Polens den Boykott jüdischer Läden befürwortet. "Die Juden" wurden im Vorkriegspolen als unliebsame Konkurrenz wahrgenommen. Aus den Berufsvereinigungen und Handwerkskammern wurden Juden ausgeschlossen. Als die deutschen Besatzer 1940 die Arisierung des jüdischen Eigentums anordneten, stiegen Polen zunächst zu Verwaltern der jüdischen Wohnungen, Häuser, Läden, Restaurants und Fabriken auf, schließlich zu deren neuen Besitzern.

Es gab viel zu verteilen: das Eigentum von dreieinhalb Millionen polnischen Juden. Gross erwähnt auch, dass die Retter der Juden sich ihre Hilfe oft teuer bezahlen ließen. Hatten die Juden dann kein Geld mehr, konnten sie verraten werden. Auch für die Auslieferung an die Deutschen gab es schließlich einen Lohn.

Reinigende Lektion

Michal Olszewski, Redakteur des Krakauer liberal-katholischen Wochenblatts Tygodnik Powszechny und einer der wenigen, der den Essay schon gelesen hat, hält die Vorwürfe zwar für schwer, vermisst auch eine moralische Wertung im Sinne "Was ist schlimmer – der Goldrausch in Treblinka oder der Mord an den Juden?", hofft aber auf eine rege Diskussion: Die Goldene Ernte von Gross möge für die Polen "zu einer bestürzenden, aber letztlich reinigenden Lektion werden". (Gabriele Lesser, DER STANDARD – Printausgabe, 11. Jänner 2011)