Blogger Stackl in Ushuaia, dem argentinischen Teil von Feuerland in Patagonien: Alles andere liegt im Norden.

Foto: B. Stackl-Fuchs
Foto: B. Stackl-Fuchs

Eigentlich müsste dieser Blogeintrag „Nordblick" heißen. Denn verfasst wurde er in Ushuaia im argentinischen Teil von Feuerland. Das ist die südlichste Stadt der Welt, alle anderen liegen nördlich von hier. Der oft von Stürmen geplagte Ort am Beagle-Kanal, Ausgangspunkt für Kreuzfahrten in die Antarktis, lebt vom Fremdenverkehr. Auch Rucksacktouristen aus aller Welt haben sich zum Jahreswechsel im von karg bewachsenen Bergen umgebenen Städtchen eingefunden, das sich selbst als „fin del mundo" (das Ende der Welt), hippiemäßig ausstaffiert, als wären sie aus den 1970er-Jahren über geblieben.

Eine Flugstunde weiter nördlich, in Río Gallegos, hat die argentinische Präsidentin Cristina Fenrnández Kirchner den Jahreswechsel verbracht. Die Hauptstadt der dünn besiedelten patagonischen Provinz Santa Cruz ist ihre politische Machtbasis und der Geburtsort ihres Mannes und Amtsvorgängers Néstor Kirchner, der im vergangenen Oktober 60-jährig gestorben ist. Damit war es auch mit der Idee vorbei, dass Néstor Kirchner heuer bei den argentinischen Präsidentschaftswahlen neuerlich kandidieren könnte.

Kein Wunder, dass Cristina Kirchner 2010 in ihrer Neujahrsansprache als „persönlich schwerstes Jahr" bezeichnete. Um etwas Ruhe zu finden, blieb sie auch der Angelobung der neuen Präsidentin Dilma Rousseff im Nachbarland Brasilien fern. Denn auch politisch geriet Argentiniens linksperonistische Präsidentin in den vergangenen Wochen angesichts wachsender sozialer Unruhen zunehmend in Schwierigkeiten.

Am 7. Dezember hatten in Buenos Aires Polizeikräfte damit begonnen, einen Park zu räumen, in dem bis zu tausend Obdachlose zur Empörung der Anwohner campiert hatten. Auch erzürnte Nachbarn griffen in die gewaltsamen Auseinandersetzungen ein, an deren Ende drei Tote zu beklagen waren. Zwei der von Getöteten stammten aus Bolivien, einer aus Paraguay. Während rechte Politiker wie der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, von „kriminellen Ausländern" sprachen, wies die Polizei jegliche Verantwortung für die Erschießungen von sich. In den Medien wird aber sehr wohl vermutet, dass Polizeiangehörige die Schüsse abgegeben haben. Präsidentin Kirchner und ihre neue, die Menschenrechte besonders betonende Sicherheitsministerin, Nilda Garré hatten zuvor verlangt, dass die Polizei bei Demonstrationen unbewaffnet vorgehen sollte, was ihnen von Gegnern den Vorwurf der Schwäche eingetragen hatte.

Diesen gab es auch bei weiteren Zwischenfällen rund um die Auslagerung von Eisenbahnarbeitern in Privatfirmen, gegen die mit Bahn- und Straßensperren protestiert wurde, wobei auch Geschäfte und Autos in Flammen aufgingen. Bei früheren Zusammenstössen, über die in diesem Blog schon berichtet worden ist, hatte es einen Toten gegeben: einen jungen Studenten und Aktivisten der radikalen Linkspartei „Partido Obrero" (PO). In Zeitungen, die Cristina Kirchner freundlich gesonnen sind, wurde die Theorie entwickelt, dass der rechtsperonistische Ex-Präsident Eduardo Duhalde (Amtszeit 2002/2003) hinter den Ausschreitungen stecken könnte. Er könnte Mitglieder der ihm nahestehenden Gastronomiegewerkschaft in die Demos eingeschleust haben, um die Protestaktionen der PO-Trotzkisten zur Gewalttätigkeit zu provozieren. Andeutungen in diese Richtung machte der auch innenpolitisch stark präsente Außenminister Héctor Timerman, der via Twitter kundtat, dass die „Arbeiterpartei" PO in Wahrheit eine intellektuelle „Partei ohne Arbeiter" und zu großen Aktionen gar nicht fähig sei. Sowohl Duhalde als auch die PO-Führung dementierten. Allein die Gerüchte waren aber Munition für Kritiker der Präsidentin, die ihre Wiederwahl im kommenden Oktober verhindern wollen.

In Buenos Aires frönte die Bevölkerung vor Weihnachten, soweit sie es sich leisten konnte, dem Konsum. Während in den Straßen südamerikanische Sommertemperaturen knapp unter 40 Grad herrschten, streiften die die Wohlhabenden im gut gekühlten Kaufhaus „Galerías Pacífico" durch die Modeboutiquen rund um einen zwei Stockwerke hohen, mit tausenden Swarovski-Kristallen geschmückten Weihnachtsbaum.

Doch wer zwischen den alten Hafenvierteln La Boca und San Telmo, wo der Tango entstanden ist, zu dem zu einem neuen Ausgehviertel umgestylten Puerto Madero fuhr, kam an verslumten Elendsiedlungen vorbei, die mit brutaler Armut, nackt im Dreck spielenden Kindern vor windschiefen Bruchbuden mit leeren Fensterhöhlen schockieren.

Wie in Brasilien hat auch in Argentinien die Regierung versprochen, solche für ein Schwellenland mit durchaus vorhandener moderner Wirtschaft und Industrie unakzeptable Zustände zu beenden. Tatsächlich hat die CEPAL, die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (mit Sitz in Santiago de Chile) festgestellt, dass der Anteil der extrem Armen in Argentinien seit 2006 von 21 Prozent auf 11 Prozent der Bevölkerung zurück ging und damit weit unter dem lateinamerikanischen Schnitt (32 Prozent) liegt. Im Jahr 2002 hatte der Anteil der Armen in Lateinamerika laut CEPAL noch 44 Prozent betragen.

2011 soll das Wirtschaftswachstum in Lateinamerika, das von der globalen Finanzkrise nur zum Teil betroffen war, zügig weitergehen. Nach einer Wachstumsrate, die für die Region im Vorjahr knapp sechs Prozent betrug, liegt die Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IMF) für heuer bei vier Prozent.

Dass es den Menschen insgesamt nicht schlechter geht, wird von Beobachtern auch als Faktor bei den Präsidentschaftswahlen angesehen, die 2011 über Argentinien (Oktober) hinaus auch in Peru (April), Guatemala (September) und Nicaragua (November) anstehen.

In Peru muss Präsident Alan García laut Verfassung abtreten. Die Wirtschaft des Landes wuchs 2010 um neun Prozent und García rühmt sich großer Erfolge bei der Armutsbekämpfung. Laut Umfragen wirkt sich das ungünstig auf den Chancen des indigenen Links-Kandidaten Ollanta Humala aus, der in Peru dem Beispiel von Boliviens Evo Morales und Venezuelas Hugo Chávez folgen will. Mit ihm werden zwei rechte Kandidaten ins Rennen gehen: Alejandro Toledo (der schon 2001-2006 Präsident war) und Keiko Fujimori (eine Tochter von Alberto Fujimori, der von 1990 bis 2000 zeitweise diktatorisch herrschte und später wegen Korruption ins Gefängnis musste). Die Partei des ehemaligen Linken Alan García nominiert Luis Castañeda, einen früheren Bürgermeister von Lima.

In Guatemala könnte dem Mitte-links-Präsidenten und Chávez-Freund Álvaro Colom dessen Ehefrau Sandra Torres nachfolgen. Als Gegenkandidat bietet sich der Ex-General Otto Pérez Molina an, der schon 2007 mit einem Programm der „harten Hand" gegen Drogen- und sonstige Gangster kandidierte.

In Nicaragua will Daniel Ortega, dessen verblasster Ruhm als Anführer der sandinistischen Revolution durch die lukrative Freundschaft mit Hugo Chávez wettgemacht wird, für eine weitere Amtszeit Präsident bleiben. Der Oberste Gerichtshof hat das Verbot einer neuerlichen Kandidatur aufgehoben, weil das den Menschenrechten widerspreche. Der Spruch des Verfassungsgerichtshofs steht noch aus. Schlimm schaut es um die Gegenkandidaten aus: Im Gespräch sind da der Liberale und amtsbekannte Korruptionist Arnoldo Alemán sowie der 79-jährige Fabio Gadea, der seinerzeit als US-unterstützter „Contra" gegen die Sandinisten kämpfte. In Mexiko und in Venezuela, wo 2012 Präsidentschaftswahlen anstehen, wird es heuer wohl zahlreiche politische Vorgeplänkel geben. Und auf Kuba ist ein Parteitag der KP geplant, wo der weitere (Reform-)Kurs festgelegt werden soll.

In Argentinien könnte das Wahljahr 2011 als ganz besonderes in die Geschichte eingehen. Alte politische Gegensätze zwischen der (über-)großen Hauptstadt und den Provinzen und solche zwischen linken (sozialistisch und nationalistisch eingestellten) Peronisten und dem neoliberalen Flügel der Partei kommen hier gleichzeitig zur Wirkung. Hauptstädtischen Politikern wie dem rechten Peronisten Eduardo Duhalde ist es durchaus zuzutrauen, dass sie die ziemlich populäre Cristina Kirchner, eine Frau mit politischer Basis in der Provinz, absägen wollen. Zuletzt hat sogar ihre Sicherheitsministerin Garré öffentlich von einer möglichen „Destabiliserungskampagne" der „Duhaldisten" gesprochen. Argentinier erinnert das an den Dezember 2001, als der schwache Präsident Fernando de la Rúa von der sozialdemokratisch orientierten „Radikalen Bürgerunion" (UCR) mit konzertierten Gewerkschaftsprotesten aus dem Amt gejagt wurde. Ein ähnliches Schicksal erlebte 1989 auch schon der „Radidkale" Raúl Alfonsín, den ebenfalls die Gewerkschaften fertig machten, obwohl die Wirtschaftslage damals noch nicht so katastrophal war. Als Raúl Alfonsín 2009 starb, kamen Zehntausende zu seinem Begräbnis und feierten ihn als Vater der argentinischen Demokratie nach der Militärdiktatur 1976-1983. Jetzt hat sein Sohn Ricardo Alfonsín Interesse angekündigt, sich um die Präsidentschaft zu bewerben. Es ist allerdings fraglich, ob sich die seit 2001 am Boden zerstörte „Radikale Bürgerunion" bis Oktober erfangen kann.

Ambitionen auf die Präsidentschaft werden auch Mauricio Macri zugesprochen, dem Bürgermeister von Buenos Aires, der trotz rechtspopulistischer Parolen kein Ausländerfeind sein will, weil einige „meiner besten Mitarbeiter Zuwanderer sind". Mit ähnlichen Argumenten gegen die in Sicherheitsfragen „schwache" Cristina Kirchner ziehen aber auch rechte Peronisten wie Duhalde vom Leder. Einige der mächtigen peronistischen Gewerkschafter haben sich zum Jahreswechsel für eine Kandidatur Kirchners ausgesprochen, andere halten sie nur für „denkbar". Bei solchen Parteifreunden bracht man wirklich keine politischen Feinde mehr.