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Bei Bauarbeiten auf dem Gelände der Haller Psychiatrie - hier auf einem historischen Foto - wurde ein Gräberfeld mit den Überresten von 220 Personen entdeckt. Die Arbeiten wurden gestoppt

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Eine Expertenkommission soll den Fund in den nächsten Wochen aufarbeiten. Dazu gehöre die Identifizierung der Toten, die wissenschaftlich korrekte Bergung des Friedhofs, die geschichtliche Aufarbeitung und die Klärung rechtlicher Fragen.

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Innsbruck - In Tirol wurde ein Gräberfeld mit den sterblichen Überresten von etwa 220 Personen entdeckt. Diese dürften dem NS-Euthanasieprogramm zum Opfer gefallen sein, sagte ein Sprecher der Tilak. Der Fund sei bei Planungen und Vorarbeiten rund um die Erweiterung der Landespflegeklinik und der Psychiatrie gemacht worden. Das Gräberfeld befinde sich im Bereich der Psychiatrie.

Das geplante Bauprojekt wurde gestoppt, die Tilak berief sofort eine Expertenkommission ein. Diese soll den Fund in den nächsten Wochen aufarbeiten. Dazu gehöre die Identifizierung der Toten, die wissenschaftlich korrekte Bergung des Friedhofs, die geschichtliche Aufarbeitung und die Klärung rechtlicher Fragen. Eigentlich sollte für das Bauprojekt der alte Anstaltsfriedhof ausgegraben werden. Im Zuge der Vorbereitungen hätten aber Nachforschungen ergeben, dass die Verstorbenen zwischen 1942 und 1945 bestattet worden seien. Es bestehe der Verdacht, dass die Toten Opfer des NS-Euthanasieprogrammes seien.

Todesfälle an der Psychiatrie in Hall seien bis 1942 dokumentiert, heißt es. Mit dem neuen Fund verdichteten sich aber Hinweise, dass mehr Menschen in der Nazizeit in Hall getötet wurden. Bisher sei man nicht von 220, sondern von 100 Toten ausgegangen, meinte der Historiker Horst Schreiber. "Es hat Pläne für ein Euthanasieprogramm mit Giftspritzen für Hall gegeben, diese wurden aber damals von der NS-Führung abgelehnt", bestätigte Schreiber dem ORF Tirol. Es bestehe aber seit einigen Jahren der Verdacht, dass man während der NS-Zeit hunderte Menschen in Hall habe verhungern lassen. Die Klärung der Todesursache sei nun Aufgabe der Gerichtsmediziner.

Der Vorarlberger Historiker Gernot Kiermayr vermutet unter den Toten auch 68 Menschen, die 1942 und 1943 aus der Psychiatrie Rankweil Valduna nach Hall verlegt wurden und dort unter nicht geklärten Umständen verstarben. Kiermayr: "Man hat ja schon lange den Verdacht, dass die sogenannte Euthanasie nie eingestellt wurde, sondern dezentralisiert."

Mehr als 700 verschleppt

Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich wurden die Gesetze der Nationalsozialisten gegen körperliche und geistige Behinderte auch in Österreich umgesetzt. Insgesamt sind mindestens 706 Erwachsene und Kinder aus dem "Reichsgau Tirol-Vorarlberg" - meist ohne das Wissen ihrer Angehörigen - verschleppt worden. Im Zeitraum von 1940 bis 1945 wurden mindestens 400 Zwangssterilisationen durchgeführt, erhoben Wissenschafter der Universität Innsbruck.

In der Arbeit "Zwangssterilisation und NS-Euthanasie in Tirol, Südtirol und Vorarlberg" erklären Historiker, dass bis 1945 mindestens 3000 Vorarlberger, Nord- und Südtiroler wegen einer angeblich vererbbaren Krankheit angezeigt wurden. Ärzte und Pfleger waren gesetzlich verpflichtet, Behinderte zu melden. Überdurchschnittlich viele Anzeigen kamen aus den Landkreisen Kufstein, Schwaz und Bregenz. Die Angezeigten wurden in Heil- und Pflegeanstalten gebracht oder sterilisiert. Für die Taten verurteilt wurde nur der Leiter des "Amtes für Volkspflege", Hans Czermak.

Von Hall nach Hartheim

In die Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz wurden, soweit heute bekannt, zwischen 1940 und 1942 360 Menschen aus Westösterreich deportiert. Dort wurden zwischen 1940 und 1944 im Rahmen der nationalsozialistischen "Euthanasiepolitik" rund 30.000 Menschen ermordet. Erst in den vergangenen Jahren ist es Historikern gelungen, Fortschritte bei der Recherche zu Namen und Schicksalen der Opfer zu erzielen, denn die geschichtliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen an kranken, behinderten und anderen als "lebensunwert" klassifizierten Menschen ist schwierig. Die "Euthanasieprogramme" wurden streng geheim gehalten, die Mörder haben ihre Spuren systematisch verwischt. Erst vor wenigen Jahren ist es gelungen, die Abläufe der "Aktion T4" fast lückenlos zu rekonstruieren sowie Opfer und Täter zu identifizieren.

"Aktion T4"

Die "Aktion T4" ist nach dem Berliner Sitz der Euthanasie-Tarnorganisation in der Tiergartenstrasse 4 benannt. Patienten aus psychiatrischen Anstalten und Insassen von Pflege- oder Altersheimen wurden in eigenen Todesfabriken, zu denen auch Schloss Hartheim zählte, durch Gas ermordet. Todesart und -ort wurden in den Sterbedokumenten verfälscht.

Die Historikerin Brigitte Kepplinger, Mitarbeiterin am Buch "Tötungsanstalt Hartheim", stellte fest, dass die Opferquoten der großen Heil- und Pflegeanstalten in der "Ostmark" noch wesentlich höher waren als im "Altreich". Aus Bayern, Slowenien und sogar dem Sudetengau wurden Menschen nach Hartheim gebracht. Anhand von regionalen Studien erklärt das Buch auch die makabere Transportlogistik der "Aktion T4".

Nach dieser ersten Euthanasiewelle, der alleine in Hartheim rund 18.000 Menschen zum Opfer fielen, begannen die Nazis unter dem Decknamen "14f13", auch KZ-Insassen und Zwangsarbeiter in den Tötungsanstalten zu ermorden. Die Namen der Opfer blieben lange Zeit unbekannt. 1998 begann Gerhart Marckhgott mit dem "Opferbuch Hartheim". Heute hat die Dokumentationsstelle der Gedenkstätte in ihrer Datenbank über 24.000 der insgesamt 30.000 Toten identifiziert. Archive von Anstalten des ehemaligen Sudetengaus könnten weitere Lücken schließen. (Verena Langegger/APA/red/DER STANDARD, Printausgabe, 04.01.2011)