"Es gab damals (Mitte der 1970er-Jahre, Anm.) einige namhafte männliche
Künstler, die die Kunstszene in Wien dominierten und der Meinung waren,
dass Frauen nicht zeichnen oder malen können. Das hat mich
herausgefordert, diese Vorstellungen zu unterlaufen, sie zu illustrieren
und darzustellen, als was man mich gesehen hat. Es war der Versuch, den
Blick der von außen auf mich eindrang, ernst zu nehmen", sagte Birgit
Jürgenssen in einem Interview mit Rainer Metzger 2003.
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Mit ihrem künstlerischen Schaffen zählt Birgit Jürgenssen (1949 - 2003) zu den wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Avantgarde. Und obwohl ihr Werk in eine Reihe mit internationalen Künstlerinnen wie VALIE EXPORT, Maria Lassnig, Francesca Woodman, Cindy Sherman, Meret Oppenheim und Louise Bourgeois zu stellen ist, wurde ihr bisher keine vergleichbare Wertschätzung entgegengebracht.
Ohne Titel (Körperprojektion), 1988
"Wie erfährt man sich im anderen, das andere in sich?" (Birgit Jürgenssen)
Wie so oft in der Kunstgeschichte muss ein/e großartige/r KünstlerIn
zumeist schon tot sein, um erst dann in vollen Zügen geehrt zu werden.
Abgesehen von einer Retrospektive im Landesmuseum Linz 1998 handelt es
sich bei der Ausstellung im Bank Austria Kunstforum um die erste große
Schau, die das Gesamtwerk der Künstlerin zeigt, und somit um die erste
posthume Retrospektive überhaupt.
Ohne Titel (Selbst mit Schädel) 1979
Die rund 250 Arbeiten, darunter auch einige bisher unbekannte aus Jürgenssens Nachlass, die das Kunstforum gemeinsam mit der Sammlung Verbund präsentiert, beweisen wie vielschichtig und stilistisch mannigfaltig das Schaffen der Künstlerin in mehr als drei Jahrzehnten sich gestaltet und entwickelt hat. Es reicht von Druckgrafiken, Zeichnungen, fotografischen Inszenierungen und performativer Körperkunst bis zu subversiven Objekten, beispielsweise des Schuhwerks.
Hausfrauen-Küchenschürze, 1975
In dieser Vielfalt der Darstellungsweisen, in der sie oftmals
postfeministische Praktiken vorweggenommen hat, vereinte sie literarische,
philosophische und psychoanalytische Bezüge sowie das Spiel mit
Metamorphosen. Wiedererkennbarkeit im Sinne eines "signature style"
findet sich bei Jürgenssen jedoch nicht, die Freude am Experimentieren
war größer.
Schwangerer Schuh, 1976
"Es ging ums Objekt. Die Identität der Frau ist zum Verschwinden gebracht, bis auf den fetischierten Gegenstand, dem Fokus männlichen Wunschdenkens". (Birgit Jürgenssen)
Ende der 60er-Jahre begann sie mit den Mitteln der Maskierung, vor allem mit Mensch-Tier-Verwandlungen, und des Rollenspiels gesellschaftliche und kulturelle Konstruktionen, die patriarchalen Dogmen von Weiblichkeit selbstironisch und subversiv zu kritisieren. Dabei bildete ihr eigener Körper zugleich Zentrum und Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Aussagen. Er diente ihr als Ort der Intervention und sie entschleierte ihn als Projektionsfläche sowohl sozialer als auch kultureller Codes, die für Frauen nicht nur sexistische Determinierungen beinhalten, sondern sich zumeist darin erschöpfen.
Zebra 1, 2001
"Durch die Strategien von Selbstironie, Subversion und
Bedeutungsverkehrung legt Birgit Jürgenssen die konventionellen
Darstellungsformen des Weiblichen bloß und lässt dabei jeden
'orthodoxen' Feminismus hinter sich", heißt es im Katalog zur
Ausstellung. Für Birgit Jürgenssen selbst war "Selbstironie eine Form
autobiografischer Strategie, um subversives und dekonstruktives
Potenzial leichter zu vermitteln".
Ich möchte hier raus!, 1976
"Ich würde es nicht Tarnung nennen. Es ist bei mir eher eine surreale Praxis durch Verschleiern sichtbar zu machen". (Birgit Jürgenssen)
Obwohl die Künstlerin sich selbst zum Modell genommen hat, ging es ihr nie um Selbstbildnisse. Sie stellte sich dar und maskierte sich, "weil es weniger um mich als darum geht, in andere Rollen und Identitäten zu schlüpfen", erklärte sie. Mit den Masken und Posen versuchte sie Identitätsgrenzen zu überschreiten, jene zwischen den Geschlechtern als auch jene zwischen Mensch und Tier, Mensch und Objekt und zwischen belebtem und unbelebtem Körper.
Ohne Titel, Olga, 1978 (Cover von Publikation 2008)
Als Darstellungsweise diente ihr zumeist die Fotografie mittels
Selbstauslöser, provokative öffentliche Performances, wie sie speziell
in den 70er-Jahren - denken wir zum Beispiel an das Taps- und Tast-Kino
von VALIE EXPORT - praktiziert worden sind, waren nicht ihr Fall. Dazu "war
ich zu scheu", gestand sie einmal.
Jeder hat seine eigene Ansicht, 1975/79
"Für mich war es immer reizvoll, über die Abbildung hinaus etwas Fiktives, Irritierendes zu machen... Es war für mich unmöglich zu zeichnen, ohne ein Stück Literatur im Kopf zu haben". (Birgit Jürgenssen)
Auch ihre bis dato nicht veröffentlichten, und nun in der Schau ausgestellten, frühen Badezimmer-Fotografien machte sie ganz alleine und intim mit Selbstauslöser, wobei der Fotoapparat deutlich zu sehen ist. Diese Fotos und ihre Hausfrauen-Zeichnungen bezeichnete Birgit Jürgenssen als Beginn ihrer künstlerischen Selbstanalyse, die übrigens einen Schwerpunkt ihrer Arbeit stellt, genauso wie die Themen Liebe, das Unheimliche, Sprachspiele, Fragmentierung, Montage und die oben beschriebenen Verwandlungen.
Nest, 1979
Wie weit Birgit Jürgenssens Gestaltungswille auch in das
Ausstellungsdesign hineinwirkte, veranschaulicht die Rekonstruktion
ihrer Installation aus der Ausstellung "10 Tage - 100 Fotos", die 1981
in der Galerie Hubert Winter gezeigt worden ist: in einem Tableau sind
verschiedene performative Arbeiten, Polaroids und Selbstdarstellungen
mit Fellchen ausdrucksstark verbunden.
Ballonschuh, 1976
Die Retrospektive, die noch bis 6. März 2011 zu sehen ist, bietet sowohl in der Gliederung als auch in der Anordnung der Werksammlung und anhand der an den Wänden der Ausstellungsräume entlang laufenden Zitate der Künstlerin einen guten Einblick in das äußerst vielfältige Schaffen von Birgit Jürgenssen. Ein Wermutstropfen ist dennoch zu nennen: nur ein einziges, noch dazu sehr kurzes Video zeigt die Künstlerin in ihrem Atelier bzw. ihrer Wohnung. Auch mehr als sieben Jahre nach dem Tod Birgit Jürgenssens hätte eine gewisse Lebendigkeit, die mittels filmisch dargestellter Interviews und anderer Dokumentationen zu schaffen gewesen wäre, dieser Schau gut getan und zur Reduzierung einer gewissen spür- und sichtbaren Sterilität verholfen.
Zur Biografie .
(Dagmar Buchta/die Standard.at, 09.01.2011)
Schuhsessel, 1974