"Geschäftsordnungstricks wie Marathonabstimmungen tragen nicht zu einem guten Erscheinungsbild der Institution bei", sagt Parlamentarismusforscher Helmar Schöne.

Foto: Thomas Zender

"Bilder von schlafenden Abgeordneten und halbleeren Plenarsälen bestätigen verbreitete Vorurteile über das Parlament", sagt Parlamentarismusforscher Helmar Schöne. Mit derStandard.at sprach er darüber, warum " Parlamente in der Öffentlichkeit häufig missverstanden werden", Geschäftsordnungstricks und ergebnisoffene Debatten.

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derStandard.at: Die Opposition hat im Zuge der Beschlussfassung des Budgetbegleitgesetzes 2011 diverse parlamentarische Mittel eingesetzt. Zum Beispiel gab es die Marathonrede des Grünen Werner Kogler im Budgetausschuss. Weiters haben die Grünen zwei Dutzend Abänderungsanträge gestellt über die alle Abgeordneten namentlich abstimmen mussten. Sind solche Aktionen im Sinne der BürgerInnen?

Schöne: Häufig werden Parlament und Plenum als gleichbedeutende Begriffe verwendet. Was in der Plenarsitzung passiert, ist jedoch nur ein Teil der Arbeit im Parlament. Die Entscheidungen fallen schon in den Mehrheitsfraktionen und in den Ausschüssen. Selbst in den Ausschüssen findet keine wirklich ergebnisoffene Debatte mehr statt. Für die Abgeordneten macht die Plenararbeit nur den geringsten Teil ihrer Arbeit aus. Im Plenum stellen die Fraktionen ihre Positionen nur mehr öffentlich dar.

Große Teile der Öffentlichkeit wünschen sich aber das Parlament als Ort ergebnisoffener Diskussionen, an dem alle Abgeordneten über die Lösung von öffentlichen Problemen diskutieren. Es gibt also eine Differenz zwischen dem, wie das Parlament tatsächlich funktioniert und wie es sich die Öffentlichkeit wünscht. Parlamente haben daher ohnehin ein Imageproblem, weil sie in der Öffentlichkeit häufig missverstanden werden. Vor diesem Hintergrund tragen Geschäftsordnungstricks wie
Marathonabstimmungen nicht zu einem guten Erscheinungsbild der Institution bei. Im Gegenteil: Bilder von schlafenden Abgeordneten und halbleeren Plenarsälen sind geeignet, verbreitete Vorurteile über das Parlament zu bestätigen. Solche Aktionen bringen zwar die Opposition ins Gespräch, nutzen aber dem Parlament als Ganzem nicht. Bürger und Bürgerinnen wünschen sich effiziente Entscheidungen.

derStandard.at: Wie könnten die Debatten im Plenum und in den Ausschüssen wieder mehr Gewicht für die politischen Entscheidungsfindungsprozesse bekommen? 

Schöne: In einem modernen Parlament kann ein Plenum keine andere Rolle mehr haben. Denn dort, wo es Parteien und Fraktionen gibt, die eine Mehrheit bilden,
werden diese immer bereits vorher versuchen müssen intern Kompromisse zu bilden und Entscheidungen zu finden. In modernen Parlamenten dient das Plenum in erster Linie dazu, die politischen Postionen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Man könnte überlegen, wie man die Debatten wieder spannender und lebendiger werden lässt. In den 90er Jahren hat das österreichische Parlament dazu die Geschäftsordnung geändert und die Redezeiten im Plenum beschränkt. Auch die Vorschrift, dass Redebeiträge nicht mitgebracht und abgelesen werden dürfen oder die Einführung von aktuellen Debatten können für mehr Lebendigkeit sorgen.

derStandard.at: Ergibt sich aus dem bloßen "Show-Charakter“ der Plenarsitzungen ein demokratietheoretisches Problem?

Schöne: Nein. Denn auch in den Fraktionen müssen Mehrheiten errungen werden. Viele glauben, dass in den Fraktionen keine ergebnisoffene Debatte stattfindet,
es so etwas wie einen Fraktionszwang gibt und die Fraktionsspitze dafür sorgt, dass ihre Positionen an die Abgeordneten durchgestellt werden. Dem
ist nicht so. Außerdem ist das Plenum ja der Ort der endgültigen Beschlussfassung, die Entscheidungen werden nur in den Fraktionen vorbereitet. Es sind die Fraktionen, die unter Beobachtung der Öffentlichkeit und ihrer Wähler stehen. Wenn die Wähler mit den Entscheidungen nicht einverstanden sind, werden sie die Parteien beim nächsten Mal nicht wieder wählen.

derStandard.at: Es gibt ein hohes Maß an Polemik in Debatten. Ist das notwendig?

Schöne: Abgeordnete sind darauf angewiesen, Aufmerksamkeit für ihre Reden zu schaffen. Der Sinn der Plenardebatte ist, in der Öffentlichkeit Adressaten zu finden. Öffentlichkeit ist heutzutage medienvermittelt. Das führt zu bestimmten Mechanismen: Zu Übertreibungen, polemischen Angriffen und zu anderen Darstellungsformen, von denen die Abgeordneten glauben, dass sie es damit am ehesten in die Medienberichterstattung schaffen. Dieses Verhalten ist kein Spiegelbild des alltäglichen Umgangs von Abgeordneten miteinander.

derStandard.at: Die Kommunikation im Parlament wird zunehmend öffentlich, zum Beispiel durch Livestreams im Internet. Müssen sich deshalb auch die Redestrategien der Abgeordneten ändern?

Schöne: Die verstärkte Möglichkeit, Plenardebatten in Gänze anschauen zu können, rührt auch daher, dass die Parlamente die Hoffnung hatten, es würde ein wirklichkeitsnäheres Bild ihrer Verhandlungen entstehen als in den kurzen Fernsehausschnitten der Abendnachrichten und ein größeres Publikum könnte erreicht werden. Obgleich nur Minderheiten "einschalten", ist das für eine kritische Öffentlichkeit dennoch ein richtiger Schritt.

derStandard.at: Die Ausschüsse sind in den meisten Fällen nicht öffentlich. Was spricht dafür?  Was spricht dagegen?

Schöne: Eine Position ist, dass öffentliche Ausschuss-Sitzungen ein realistischeres Bild von der Arbeitsweise in Parlamenten herstellen könnten, denn in den Ausschüssen wird sachbezogener gearbeitet. Andererseits: Wenn die Öffentlichkeit zugelassen würde, passierte möglicherweise genau das Selbe wie im Plenum, nämlich, dass die Abgeordneten zur Öffentlichkeit reden würden anstatt sich sachlich und kollegial über die Tagesordnungspunkte zu verständigen. Der Ausschluss der Öffentlichkeit dient auch einer sachbezogenen Atmosphäre in den Ausschüssen. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 22. Dezember 2010)