"Ich beschloss, das Land zu verlassen": Rubina Möhring traf die heute 38-jährige Witwe und Journalistin Miroslawa Gongadze zum Interview in Washington.

Foto: Möhring

Bild nicht mehr verfügbar.

Journalisten wie der im Jahr 2000 ermordete Georgi Gongadze werden zu Symbolfiguren für Freiheit und Menschenrechte.

Foto: epa

Am 16. September 2000 verließ der ukrainische Journalist Georgi Gongadze sein Büro. Nach Hause kam er nicht mehr. Wochen später wurde seine Leiche - enthauptet, mit Säure übergossen - gefunden. Identifiziert werden konnte er durch eine alte Narbe. Noch immer sind die Auftraggeber des Mordes nicht bekannt. Seine Witwe vermutet sie in höchsten Regierungskreisen. 2001 erhielten Miroslawa Gongadze mit ihren Kindern politisches Asyl in den USA. Für den TV-Sender "Voice of Amerika" moderiert die heute 38-jährige Journalistin die ukrainischsprachige Nachrichtensendung "Tschas-Time".

STANDARD: Frau Gongadze, zehn Jahre nach dem Mord an Ihrem Mann sind die Hintergründe noch immer nicht geklärt.

Gongadze: Die Killer kennen wir. Es sind drei Polizeibeamte, die inzwischen wegen Mordes verurteilt sind und ihre Strafen absitzen. Es gibt noch einen vierten, Olexi Pukatsch, er war General im Innenministerium und eine Schlüsselfigur. Wir warten auf seinen Prozess. Laut Untersuchungsprotokolle hatte er persönlich die Killer beauftragt. Das steht fest. Unklar ist nach wie vor, in wessen Auftrag der Mord geschah. Kürzlich erklärte die ukrainische Staatsanwaltschaft, dass der Befehl vom früheren Innenminister Juri Krawschtenko kam. Ich bezweifle, dass Krawschtenko für den Mord allein verantwortlich ist. Ich glaube, dass der Befehl aus höchsten Regierungskreisen gekommen ist, möglicherweise von Wolodymyr Lytwyn, dem Kabinettschef des damaligen Präsidenten, oder sogar von Präsident Leonid Kutschma selbst. Gegen beide wurden die Untersuchungen aufgenommen.

STANDARD: Warum wurde Ihr Mann ermordet. Hing das mit Giorgis kritischer Radiosendung "Die erste (Wahl-)Runde" zusammen?

Gongadze: Es war nicht nur die Sendung. Seine gesamte journalistische Tätigkeit war ihnen ein Dorn im Auge. Er hatte die Internetzeitung Urkrajinska Prawda gegründet, die bis heute erfolgreich investigativen Journalismus betreibt. Georgi war Fernsehreporter und Moderator, er trat in allen wichtigen Wahlsendungen auf. Er war bekannt als scharfer Kritiker des ukrainischen Establishments, und kein anderer Journalist wagte es, so offen Kutschma und seine Umgebung ins Visier zu nehmen. Das war sein Todesurteil.

STANDARD: Im November 2000, als Ihr Mann ermordet aufgefunden worden war, tauchte eine Tonbandkassette auf, der Mitschnitt eines Gesprächs zwischen Präsident Kutschma, seinem Kabinettschef Lytwyn und Innenminister Krawtschenko. Offenbar wurde bei diesem Treffen Georgis Mord besprochen. Einer der Beteiligten sagte: "Bring ihn nach Tschetschenien." Fünf Jahre später wurde Krawtschenko tot aufgefunden. Was lief da ab?

Gongadze: Der Hintergrund ist das damals korrupte System und der Mangel an Verantwortungsbewusstsein der Politiker. Sie sind alle voneinander abhängig und decken sich gegenseitig. Bis heute funktioniert dieses System. Ich habe immer geglaubt, dass die Recherchen meines Mannes zu einer Reinigung innerhalb der Gesellschaft führen. So einfach ist es nicht. Sie haben gemeinsame Leichen im Keller, deshalb wollen sie nicht, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Solange das nicht geschieht, wird die ukrainische Gesellschaft in ihrem Lügennetz verstrickt bleiben.

STANDARD: Krawtschenko wurde erst nach der Orangen Revolution, nach der Abwahl des früheren Präsidenten Kutschma gestellt. Am Tag, an dem er von der Staatsanwaltschaft verhört werden sollte, fand man ihn tot in seinem Haus. Vier Jahre später, also 2009, wird der damalige Polizeichef Pukatsch verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, mit Krawtschenko für den Mord an Georgi verantwortlich zu sein. Pukatsch wiederum beschuldigte die damalige Regierung. Nach dem aktuellen Regierungswechsel erklärt der als Parlamentssprecher wieder zu Ehren gekommene Lytwyn plötzlich, der Fall sei eine Machenschaft ausländischer Geheimdienste. Was stimmt?

Gongadze: Das hängt alles mit dem Tonband zusammen. Es ist noch immer unklar, wer für diese Aufnahme verantwortlich ist. Nikolaj Militenko, der einstige Sicherheitsbeamte von Präsident Kutschma, hatte behauptet, er habe das Gespräch in Kutschmas Büro aufgenommen. Militenko wurde nie befragt und verweigert jede Antwort auf präzise Fragen. Insofern blieb die Frage, wer den Mitschnitt des Gespräches zu verantworten hatte, offen. Anderseits, sofern Herr Kutschma oder Herr Lytwyn über Informationen verfügen, dass ausländische Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten, warum haben sie das nicht zur eigenen Verteidigung schon früher publik gemacht? Sie hatten alle Macht der Welt, die Wahrheit herauszufinden. Sie haben es nicht getan. In meinen Augen taten sie es nicht, weil sie in den Mordfall verwickelt waren.

STANDARD: Ist die Art dieser Untersuchungen symptomatisch für postkommunistische Staaten?

Gongadze: Absolut. Wir hatten einen Präsidenten, umgeben von einem engen Kreis, der ihn finanziell unterstützte. Es ist das alte System, nach wie vor ohne rechtsstaatliche Justiz. Das Land war nicht in der Lage, demokratische Institutionen zu implementieren.

STANDARD: Ihr Mann war nicht der einzige Journalist, der ermordet wurde. In Russland hatten wir den Fall Anna Politkowskaja. Sehen Sie Parallelen zwischen dem System in Moskau und jenem in Kiew?

Gongadze: Da sind ganz konkrete Parallelen. Die Regierungen sehen in Journalisten lediglich ein Servicepersonal für ihr Wohlbefinden. Sie versuchen, kritische Journalisten einzuschüchtern und, wenn sie kritisch bleiben, schließlich zu ermorden. Die Systematik ist in beiden Ländern dieselbe.

STANDARD: Welche Bedeutung kommt bei dieser sogenannten Rückkehr zu alten Gepflogenheiten in der Ukraine dem russischen Ministerpräsident Putin zu?

Gongadze: Putin etablierte mit der sogenannten gelenkten Demokratie eine kontrollierte Demokratie, in der Journalisten nach und nach jede Freiheit entzogen wurde. Das war ein langer Prozess, der fast 15 Jahre dauerte. Jetzt wird jeder, der öffentlich auf den Straßen von Petersburg oder Moskau die Regierung kritisiert, festgenommen - und alle wissen es. Ich habe Sorge, dass die neue Regierung versuchen wird, dasselbe in der Ukraine zu schaffen. Nach der Revolution konnten die Journalisten in den vergangenen fünf Jahren in aller Freiheit arbeiten. Selbst Freedom House stufte die Ukraine als ein freies, postsowjetisches Land ein. Jetzt aber stehen wieder Schikanen an der Tagesordnung und die Journalisten fürchten sich.

STANDARD: Hatte die Ukraine unter den postsowjetischen Staaten einen speziellen Stellenwert inne?

Gongadze: Während der vergangenen fünf Jahre war die Ukraine jenes Land, das anderen postsowjetische Staaten zum Teil als ein gutes Beispiel diente. Oppositionspolitiker aus Weißrussland oder Dissidenten aus Usbekistan suchten in der Ukraine um politisches Asyl an. Sie sahen in der Ukraine ein freies Land, wo sie überleben und ihren Job machen könnten. Das ist vorbei. Seit der neue Präsident an der Macht ist, häufen sich Drohungen, Schikanen und Zensur. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Damit geht den anderen Staaten die Hoffnung auf Demokratie verloren.

STANDARD: Es ist nur eine Minderheit, die sich in jenen Medien informiert, für die Journalisten wie Ihr Mann arbeiteten. Warum nehmen Regierungen diese Journalisten so wichtig, dass sie diese sogar ermorden lassen?

Gongadze: Sie sind Symbolfiguren für Freiheit. Es sind nur wenige, aber andere Journalisten können sich ein Beispiel nehmen. Sie sind quasi ein Barometer für Freiheit und freie Information. Wenn einer ermordet wird, sinkt dieses Barometer, und die anderen bekommen Angst. Dazu gehört auch, dass die Fälle mehr oder weniger publik gemacht werden.

STANDARD: Inwieweit ist die Bevölkerung dieser Länder prinzipiell interessiert an Informationsfreiheit und Menschenrechten?

Gonagadze: In der Ukraine achten die Menschen darauf. Sie legen Wert auf Freiheit und Pressefreiheit, das haben wir bei der Orangen Revolution gesehen. Wären ihnen diese Rechte gleichgültig gewesen, wären sie nicht auf die Straße gegangen. Im Moment sind sie desillusioniert durch die vorige Regierung. Für viele sind jetzt ein sicheres Leben und Essen auf dem Tisch die Hauptsache. Vorher war das anders.

STANDARD: Sie leben seit neun Jahren in den USA. War es schwierig, politisches Asyl zu erhalten?

Gongadze: Nein. Mein Leben und das meiner kleinen Kinder waren in Gefahr. Ich war in das Zentrum eines politischen Vulkans geraten und wusste nicht mehr, aus welcher Richtung die Bedrohung kam. Mein Telefon wurde abgehört, ich wurde beschattet, deshalb beschloss ich, das Land zu verlassen. Mir war klar, dass ich für die Aufklärung des Mordes nur außerhalb der Ukraine kämpfen könnte. Washington schien mir hierfür der beste Platz.(Rubina Möhring, DER STANDARD; Printausgabe, Album-Spezial, 11./12.12.2010)

Er war bekannt als Kritiker des ukrainischen Establishments, und kein anderer Journalist wagte es, so offen Kutschma und seine Umgebung ins Visier zu nehmen. Das war sein Todesurteil. " "

"Ich beschloss, das Land zu verlassen": Rubina Möhring traf die heute 38-jährige Witwe und Journalistin Miroslawa Gongadze zum Interview in Washington.

Fotos: R. Möhring

Journalisten wie der im Jahr 2000 ermordete Georgi Gongadze werden zu Symbolfiguren für Freiheit und Menschenrechte. Foto: EPA