Es gab Zeiten, da lebten Buben noch in Karl Mays Welten. Sie mögen zwar auch damals schon weniger freudig getratscht haben als gleichaltrige Mädchen, aber das Lesen war keinem Geschlecht vorbehalten. Die Leidenschaft galt dem Fußball, doch wenn es draußen regnete und im ORF nur der Seniorenclub lief, dann griff auch so mancher Sportlertyp zum Buch.

Zum Glück gibt es heute 160 TV-Kanäle, hunderte Spiele für PC, Nintendo und Playstation. Der Bub kann seiner inneren Stimme folgen, und die sagt ihm, dass Lesen gar nicht cool ist. Die Pisa-Studie und andere Lesetests bestätigen bloß das, was Eltern mit männlichem Nachwuchs ohnehin täglich erleben.

Warum Mädchen trotz aller Ablenkungen immer noch Bücher lieben - ist es angeborene Neugier, die Sehnsucht nach Träumen oder die Suche nach Stoff fürs Quatschen mit Freundinnen? -, ist nicht ganz klar. Der gleichaltrige Bursch behauptet zwar, dass er Sachbücher mag, aber die blättert er meist nur durch oder holt sich sein Wissen via Mattscheibe von Welt der Wunder oder Galileo.

Er mag aus einer zugewanderten Familie stammen oder aus einer ur-österreichischen, seine Eltern mögen keine Ausbildung haben oder ein Hochschuldiplom - der Träger des Y-Chromosoms ist in allen Schichten und Ländern ein Büchermuffel.

Immer wieder keimt die Hoffnung auf, dass er doch noch das Lesen entdeckt. War nicht das Internet voller Buchstaben? - aber nur, bis das Web 2.0 Videos und Onlinespielen zum Durchbruch verhalf. Dann kam Harry Potter. Doch auch R. J. Rowlings Zauberlehrling wurde eher von Mädchen verschlungen - schließlich ist Hermine die Leseratte, nicht Harry. Und dank der Potter-Filme kann jetzt jeder nach Hogwarts, ohne sich durch hunderte Seiten quälen zu müssen.

Der Möchtegern-Bücherwurm steckt in einem Teufelskreis: Weil Mädchen eher lesen, wird für sie mehr geschrieben. Und viele moderne Bubenromane, die Abenteuer und Spannung versprechen, sind einfach schlecht. Aber das galt auch für Karl May, der bei einem heutigen Teenager Gähnen oder Gelächter hervorruft.

Zur Beruhigung der frustrierten Eltern: Nicht alle Buben mit Papierallergie werden asozial oder arbeitslos. Irgendwann holen sie gegenüber den Mädchen auf, schließen ihre Ausbildung ab und sind am Ende die Chefs der sprachaffinen Leserättinnen. Aber was sie bis dahin an ungelesenen Büchern versäumen, würde man ihnen gerne schon jetzt vermitteln. (Eric Frey, DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.12.2010)