Wenn der klassische Jakobsweg die Autobahn zur inneren Ausgeglichenheit ist, ist die Nordroute entlang der spanischen Atlantikküste quasi die Landesstraße. Was nichts Negatives ist: Dort herrscht ja auch weniger Verkehr, es geht alles gemächlicher zu, die Landschaft ist netter, und man bekommt mehr von Land und Leuten mit. Auf dem Camino del Norte ist es ebenso. Von moderner Kunst über feines Essen und einer echten Prinzessin bis hin zu - nun ja - außergewöhnlichen Reliquien finden Pilgerin und Pilgersmann alles.

Von San Sebastián führt die Route über Bilbao (Guggenheim Museum), Santander (Höhlen von Altamira) und Oviedo (Kathedrale) nach Santiago de Compostela. Das Baskenland, Kantabrien, Asturien und Galicien sind die zu durchquerenden Regionen - zusammen machen sie die "Costa Verde", die "Grüne Küste" aus. Der Name ist auch als dezenter Hinweis zu verstehen: Damit eine Küste grün ist, braucht es Wasser. Und das kommt hier, häufiger als anderswo in Spanien, von oben.

"Guyer" nennt man die an einem Regenschirm herabperlenden Tropfen in Kantabrien, ein Wort, das es nirgendwo sonst auf der Iberischen Halbinsel gibt. Häufiger sind auf der Nordroute dagegen seltsame Maschinen in Lokalen und Hotels: Man steckt den feuchten Regenschirm oben in ein Loch, bewegt ihn nach links und zieht ihn von einer tropfsicheren Kunststofffolie umhüllt wieder heraus.

Die Peregrinos, wie sie auf Spanisch heißen, hält das nicht ab, die Regenhaut gehört zur Standardausrüstung. Wie für Silvy aus Perpignan. Die Obstbäuerin steht vor dem flachen Backsteinbau in dem kantabrischen Städtchen Santillana, in dem die einfache Pilgerunterkunft ist. Gestartet ist sie in Paris, fünf Wochen später will sie in Santiago sein.

Es ist ihre zweite Reise, diesmal wolle sie eine andere Route nehmen, erzählt sie. Ob es eher um das Wandern oder den Glauben geht? "Das religiöse Motiv wächst", erklärt Silvy, warum sie mit vollbepacktem Rucksack täglich rund 36 Kilometer auf der Küstenstrecke zurücklegt, die manchmal durch sanfte Hügelgegenden und manchmal steil bergauf auf schroffe Felsklippen führt.

Der Zwischenstopp in Santillana bietet den Pilgern auch eine Ahnung, wie es ihren mittelalterlichen Vorgängern gegangen sein muss. In der jahrhundertealten Altstadt mit Handelshäusern und Adelspalästen sind Autos verboten, auf dem Platz vor der Stiftskirche der Heiligen Juliana plätschert noch immer ein Bach durch die überdachte Tränke, an die noch vor wenigen Jahren Kühe geführt wurden.

In der Casa Quevedo daneben verkauft Antonio Inquanza frische Milch im Glas und wird aufgeregt, als er erfährt, dass Österreicher hier sind. "Die Prinzessin ist gerade hier, ich schaue nach, ob sie Zeit hat", verkündet er und verlässt seine Theke, um in ein Haus auf der anderen Straßenseite zu eilen.

Die Prinzessin hat Zeit - und will eigentlich gar keine Prinzessin sein. Sie heiße Elisabeth Sandhofer und stamme aus Salzburg, erklärt die distinguierte 78-Jährige. Ihre Tante habe das zum Teil aus dem 14. Jahrhundert stammende Gebäude im Jahr 1929 gekauft, seit dem Jahr 1964 kommen sie und ihr Mann hierher. "Früher waren das hier noch alles Ställe. Ein Schock war, als das erste Auto kam. Das war der Anfang vom Ende."

Aber warum der Milchmann erzähle, dass sie eine Verwandte von Kaiserin Sisi sei? Sandhofer denkt kurz nach. "Ja, eine Nichte der Großnichte, das könnte hinkommen." Aus welchem Adelshaus sie stamme, will sie aber partout nicht verraten.

Städtchen mit Erzherzogin

Schwierig herauszubekommen ist das dank Internet nicht: Sie ist Mitglied der toskanischen Linie der Habsburger, trägt theoretisch den Titel einer Erzherzogin von Österreich und ist auch Mitbesitzerin des "Draculaschlosses" Bran in Rumänien.

Vampire gibt es hier im Norden Spaniens nicht, falls doch, ist das probate Gegenmittel nicht weit. Denn schließlich liegt am Ende des Weges nicht nur das Grab des Apostels Jakobus, auf der Route dorthin finden sich auch zahlreiche Reliquien.

Vor allem die Schatzkammer der gotischen Kathedrale in Oviedo, der Hauptstadt Asturiens, bietet in dieser Hinsicht einiges. Das Schweißtuch von Jesus ist die bekannteste Reliquie dort. Aus unverständlichen Gründen werden die anderen seltener erwähnt. Lagern dort schließlich auch Federn von Engeln und Erzengeln (unterscheiden sich im Weißton), Brot vom Letzten Abendmahl, eine Sandale von Petrus und Muttermilch von Maria.

Rund 350 Kilometer sind es nach diesem erbaulichen Zwischenstopp dann noch bis Santiago. Wer als echter Pilger gelten will, braucht aber nur 100 Kilometer des Jakobsweges zu Fuß zurückzulegen. Bewiesen wird das mit einem Pilgerpass, in dem man jeden Tag mindestens einen Stempel, den es in den Herbergen am Weg gibt, eintragen lassen muss.

Dann heißt es warten. Denn egal welchen der verschiedenen Caminos die Menschen benutzt haben - im Pilgerbüro nahe der Kathedrale warten sie alle, um sich ihre Bescheinigung ausstellen zu lassen. Im Eingangsbereich des Erdgeschosses liegen die weggeworfenen Stöcke übermannshoch, vor der Stempelstelle riecht es nach Umkleidekabine - ein Lächeln hat dennoch fast jeder im Gesicht. Egal, ob er die Autobahn oder die Landesstraße benutzt hat. (Michael Möseneder/DER STANDARD/Printausgabe/27.11.2010)