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Festnahme in Rennes: Die französische  Bereitschaftspolizei CRS ist für ihre Härte berüchtigt.

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Zivilpolizei gegen Demonstranten in Paris: Laut Dieter Rucht können Bilder wie dieses einen Solidarisierungseffekt hervorrufen

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Umstrittene Waffe: in Lyon dürfen Gummigeschoße ("Flashballs") weiter verwendet werden

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Dieter Rucht: "Großdemonstrationen gab es auch in der jüngeren Vergangenheit, etwa im Februar 2003 gegen den anstehenden Irakkrieg oder gegen konservative Regierungen in Italien und Frankreich. Das ist auch in Zukunft nicht auszuschließen"

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Der deutsche Soziologe Dieter Rucht ist Ko-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er beschäftigt sich vor allem mit politischer Partizipation und sozialen Bewegungen. Im E-Mail -Interview erklärt er, warum sich Volksabstimmungen nicht zur Lösung aller Konflikte eigenen, warum sich Politiker auf Demos sehen lassen und warum Bilder prügelnder Polizisten einen Solidarisierungseffekt auslösen können.

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derStandard.at: Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft hat kürzlich beklagt, dass seine Männer "zunehmend als Puffer zwischen Politik und Gesellschaft missbraucht" würden.  Stehen uns in Europa Großdemonstrationen wie vor vierzig Jahren gegen den Vietnamkrieg bevor?

Dieter Rucht: Großdemonstrationen gab es auch in der jüngeren Vergangenheit, etwa im Februar 2003 gegen den anstehenden Irakkrieg oder gegen konservative Regierungen in Italien und Frankreich. Das ist auch in Zukunft nicht auszuschließen. Allerdings sehe ich derzeit noch keinen Trend zu immer mehr und immer größeren Demonstrationen. In den letzten Jahren, vielleicht mit der Ausnahme der letzten Monate, war die Zahl der Proteste in Deutschland sogar geringer als in den 1990er Jahren.

derStandard.at: Warum schaffen wir es in Europa nicht, solche Konflikte per Volksabstimmung zu lösen?

Rucht: Teilweise, weil es Volksabstimmungen, zumindest auf nationaler Ebene, gar nicht gibt. Teilweise sind auch die Hürden dafür zu hoch. Zudem gibt Konflikte, die sich nicht für Abstimmungen nach dem Muster von Ja oder Nein eignen. Und es gibt Konflikte, zum Beispiel über moralische Grundsatzfragen, bei denen die unterlegenen Minderheiten die Mehrheitsentscheidung nicht akzeptieren würden. Aber es wäre falsch, deshalb Volksentscheide grundsätzlich abzulehnen.

derStandard.at: In Ihrer Befragung der Stuttgart-21-Demonstanten fällt das geringe Vertrauen in die Medien auf - nur 2 Prozent halten die Stuttgarter Nachrichten für informativ. Was machen die Medien falsch?

Rucht: Aus diesem Ergebnis kann man nicht ableiten, dass "die Medien" etwas falsch machen würden. Die Stuttgarter Nachrichten unterstützen vehement das Projekt Stuttgart 21; die befragten Demonstranten stimmen mit dieser Position nicht überein. Es ist also zu erwarten, dass die Demonstranten dieser Zeitung ein besonders schlechtes Zeugnis ausstellen.

derStandard.at: Rechnen Sie damit, dass die Teilnehmerzahlen an Protesten durch die Bilder prügelnder Polizisten steigen oder sinken werden?

Rucht: Sofern die Protestierer friedlich bleiben, erhöhen Bilder prügelnder Polizisten eher die Teilnehmerzahlen an Protesten. In Stuttgart gab es einen Solidarisierungseffekt und keinen Abschreckungseffekt. Dass die Teilnehmerzahlen in Stuttgart in den letzten Wochen zurückgegangen sind, liegt an den laufenden Schlichtungsgesprächen.

derStandard.at: Überregionale Probleme aber keine überregionalen Proteste dagegen: Sind Demos an und für sich ein regionales Phänomen?

Rucht: Es gibt lokale wie überregionale Proteste zu manchen regionalen Problemen, aber auch zu manchen überregionalen Problemen. Ein Großteil der Proteste verfolgt jedoch ein lokales oder regionales Anliegen. Dies sind aber in der Regel kleinere Proteste, über die in überregionalen Medien selten berichtet wird.

derStandard.at: Die Pariser Polizei hat den Einsatz von Gummigeschoßen untersagt, nachdem ein 16-Jähriger ins Auge getroffen wurde. Warum verwendet die französische Polizei überhaupt diese umstrittene Waffe, die in den meisten europäischen Ländern nicht benutzt wird?

Rucht: Die französische Polizei, insbesondere die nationale Bereitschaftspolizei CRS, ist für ihre Härte berüchtigt. Das Verbot bestimmter Waffen ist Sache der Politik. Und die setzt in Frankreich, von Ausnahmen abgesehen, nach wie vor auf einen harten Kurs - vermutlich im Glauben auf dessen abschreckende Wirkung und in der Hoffnung auf den Beifall einer bestimmten Wählerklientel.

derStandard.at: Ex-Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal beteiligte sich an einer Schülerdemo gegen die Pensionsreform - ist es Populismus, wenn Politiker den Protest auf die Straße tragen, oder steckt mehr dahinter? Warum kommt sowas so selten vor?

Rucht: Es kommt immer häufiger vor, weil es zusätzliche mediale Aufmerksamkeit schafft und auch das Band zu einem bestimmten Teil der Wählerschaft festigen kann. Zudem gibt es Politiker und ganze Parteien, etwa die Grünen, die eine inhaltliche Nähe zu manchen Protestbewegungen haben. In den 1990er Jahren protestieren beteiligten sich sogar führende Mitglieder der bayerischen Staatsregierung an einem Straßenprotest gegen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das festlegte, dass unter bestimmten Voraussetzungen Kruzifixe in Schulen abgehängt werden müssen.

derStandard.at: Im Interview mit der Hamburger Abendblatt haben Sie von der Wir-hier-unten-Ihr-da-oben-Mentalität gesprochen, die in Frankreich besonders stark ausgeprägt sei. Wie entstehen Ihrer Meinung nach solche Unterschiede?

Rucht: Sie entstehen durch eine politische Kultur mit einer starken Rechts-Links-Polarisierung, durch eine Politik, welche die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, schließlich durch die Arroganz mancher Politiker, die glauben, sie wüssten alleine, was für ein Land gut oder schlecht ist.

derStandard.at: Britische Studenten sind empört über den LibDem-Vorsitzenden Nick Clegg, der für die Regierungsbeteiligung auf die jahrelange Forderung seiner Partei, Studiengebühren abzuschaffen, verzichtete. Versprechen Politiker mehr, als sie halten können?

Rucht: So ist es. Die Logik des Stimmenfangs verleitet sie immer wieder dazu. Offensichtlich haben große Teile der Wählerschaft ein zu kurzes Gedächtnis oder glauben, dass sich Politiker in dieser Hinsicht ohnehin nicht unterscheiden. (Bertold Eder/Manuela Honsig-Erlenburg/derStandard.at, 18.11.2010)