Foto: Suhrkamp

Ein Porträt des Autors. Von Stefan Gmünder

Zürich 1974: Es war ein warmer, fast vorsommerlicher Apriltag, als Federico Fellinis Film Amarcord über (s)eine Jugend im faschistischen Rimini in den Schweizer Kinos anlief und Paul Nizon, den der italienische Regisseur lange schon "wie ein Stern" begleitet hatte, im Zürcher Tagesanzeiger schrieb: "Fellini erfindet keine Filme. Er zeigt , das Leben', er zeigt es in seiner anarchischen Wildheit und blendet es an in seiner Einmaligkeit, Unwiederbringlichkeit, (...). Es ist das gewöhnliche Leben von jedermann, aber in seinen Filmen wird es zur atemberaubenden Saga. Er (Fellini) ist der Clown, der ihnen für Momente und Stunden die Augen öffnet, bevor er sie wieder entlässt. Er hat sie zum Lachen und Weinen gebracht, er hat sie gerührt, durcheinandergebracht und erschüttert. Er hat sie in den Reigen gespannt. Sie werden sich noch eine Weile ,erinnern' an ,das Leben'."

Vieles, was Nizon über Fellinis Film schreibt, nahm und nimmt er auch für seine eigene Arbeit als Schriftsteller in Anspruch: die Feier der Liebe und des Augenblicks, die Glückssuche, das Jagen nach dem "richtigen" Leben, dem einen, das nottut, die Amalgamierung von Erinnerung und Gegenwart, das Beharren auf Glanz und einer poetischen Weltsicht, auch wenn die Zeichen anders stehen.

Ein Jahr zuvor, Ostersamstag 1973, hatte Nizon in seinem Journal notiert: "Ungeheure Tiefs mit finsterster Bedrückung, geballte Aggression und viel Lethargie, die ganzen Tage durch." Und in der Tat waren die letzten Jahre, das letzte Jahrzehnt eigentlich, schwierig gewesen. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und den Job als leitender Kunstkritiker der NZZ, Familie und Sicherheit in die Waagschale geworfen, um Schriftsteller zu werden. Der Erfolg stellte sich zögerlich ein – und Nizon tat das, was er in solchen Situationen immer tut: "Durchhalten. Weitergehen."

Wiederum 36 Jahre später, 2009, Nizon lebte mittlerweile schon mehr als drei Jahrzehnte in Paris, sollte es dann dieser 1929 in Bern als Sohn eines russischen Emigranten und einer Schweizerin geborene Autor sein, dem als erstem noch lebenden Schriftsteller (später folgten ihm Hans Magnus Enzensberger und Amos Oz) die Ehre zuteilwurde, mit einem 1500 Seiten umfassenden Band mit allen bisher geschriebenen Erzählungen, Romanen und Journalen in der renommierten Quarto-Reihe des Suhrkamp Verlags zu erscheinen – und in dieser Bibliothek der "Weltliteratur und des Wissens" in einer Reihe mit Autoren wie Foucault, Brecht, Joyce, Bernhard, Marguerite Duras, Cioran, Frisch und Kafka zu stehen.

Undressierbar

Zu Recht, wie viele meinten – auch als Nizon mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2010 ausgezeichnet wurde, der ihm am Montag von Bundesministerin Schmied übergeben wird. Nizon ist hier kein Unbekannter: Elias Canetti war sein Trauzeuge, mit Max Frisch und Ingeborg Bachmann war er befreundet, wenn er in Österreich las, reiste Thomas Bernhard an, H. C. Artmann besuchte ihn in Paris, und Handke sieht Nizon als einen "der am wenigsten dressierten Schriftsteller, inmitten der zunehmenden Dressiertheit, Fremdgelenktheit der anderen; undressierbar".

Undressierbar: Nizon trug in den 1960er-Jahren, als man deswegen bei Linken und Progressiven definitiv noch auf die Reaktionärs-Liste kam, Anzug und Krawatte, posierte mit Zigarette im Mundwinkel in Filmstarmanier auf einer Seine-Brücke für Fotografen – natürlich im Trenchcoat samt Sonnenbrille -, schrieb zu einer Zeit, als von Schriftstellern politische Statements und Themen erwartet wurden, über Persönliches und Erotik (was er immer noch tut) – und tönte dabei großartig, sein Platz unter der Sonne sei im Nachtlokal. Er legte sich mit Kritikern an und verhielt sich insgesamt wie ein Boxer, der in der neunten Runde merkt, dass er nur verlieren kann. Es sei denn, er landet einen Lucky Punch.

Nicht wenige Schweizer Schriftsteller der mittleren Generation, etwa Hansjörg Schertenleib oder Silvio Blatter, sagen, Nizon habe sie zu Lesern gemacht – zu Schriftstellern sowieso. Und der NZZ-Kritiker Samuel Moser schreibt, Nizon sei einer, der sich nicht einfangen lasse: "Früher nicht, jetzt nicht, nie." Was stimmt, allerdings hat die Schriftsteller-Inszenierung Nizons Werk mehr geschadet, als sie ihm nützte, und wenn man sich an den Lou- Reed-Sager hält, dass es besser sei, nichts von dem, was man hört, und die Hälfte dessen, was man sieht, zu glauben, und das Äußere der schillernden Autorenfigur ausblendet, ergibt sich bei der Lektüre der Werke Nizons ein anderes, differenzierteres Bild.

Nämlich das einer Schriftstellerpersönlichkeit, die sich als "Autobiografiefiktionär" im wahrsten Sinn das Leben erschreibt und schreibend sich selbst, nein, dem Leben auf der Spur ist. Es werden bei der Lektüre die Konturen eines Ich sichtbar, das um eine poetische Weltsicht kämpft, um ein Schreibleben, um jedes Buch, um jeden Satz, "der sozusagen ein Heimkehrer aus dem Krieg sein muss, der überleben konnte".

Das Unterwegssein und Nichtankommenkönnen sind Grundmotive in Nizons Werk, dem auch das Ringen um Schönheit, Form und der Kampf gegen die Auflösung, das drohende Nichts eingeschrieben sind. In kreisenden Suchbewegungen skizziert dieser Autor, der sich in seiner Frankfurter Poetikvorlesung Am Schreiben gehen (1985) als "Lebenssucher" bezeichnet, mit existenzieller Wucht und federleichtem Stil Ausgänge aus einer vom Ich als beengend und lebenstötend empfundenen Welt. In exemplarischer Weise schreibt Nizon, oft anhand des eigenen Lebens, über das Ringen um Helligkeit und Schönheit, die für ihn im schöpferischen Akt der Sprache, im Alltag und in der Liebe gefunden werden können.

Das hat in seiner existenziellen, radikalen Ausrichtung in der heutigen Zeit fast schon etwas Romantisches, etwas Tröstliches auch.

Berühmt, nicht erfolgreich

Obwohl er sich in Frankreich – vor allem mit den großen Parisromanen Jahr der Liebe (1981, ein Mann, der neu in der Stadt ist, beginnt, ausgehend von einem Pariser Hinterzimmer, sein Leben neu), Im Bauch des Wals (1989, in dem sich die Leitmotive der Suche nach dem Leben, der Gegenwart der Stadt und der Frauen wiederfinden), Hund Beichte am Mittag (1998, ein Streuner, der alles hinter sich ließ, wendet sich der Vergangenheit zu) und Das Fell der Forelle (2005, über einen Liebesversehrten, der aus Welt und Zeit fällt) – Kultstatus erschrieb, halten sich die Auflagen seiner Bücher in engen Grenzen (Wal 10.000, Jahr der Liebe 20.000, Hund 13.000).

Im deutschen Sprachraum sieht es ähnlich, eher schlechter aus. Hier ist er, obwohl seine Bücher etwa in Hamburg zur Schullektüre zählen und es in jeder Runde, in der über Literatur geredet wird, einen (seltener eine) gibt, der oder die alles von diesem Autor gelesen hat, unterschätzt geblieben.

Er sei ein "berühmter, erfolgloser Schriftsteller", sagte Nizon vergangenes Jahr. Warum? Im Interview mit dem Standard meint er dazu: "Mein Schreiben ist eine auf Selbstfindung, Positionierung und Haltsuche angelegte individualistische Arbeit. Eine Jagd auf mich selbst. Vielleicht hat die Verhinderung, mit dem großen Publikum Kontakt aufzunehmen, mit diesem selbstausgräberischen Element zu tun, das nicht jedermanns Sache ist. Im Grunde genommen verfertige ich, wenn ich schreibe, ein Einzelstück. Ich wende mich an ein Leser-Du – und nicht an einen großen Markt."

Und Houellebecq, der mit seinem neuen, soeben mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman La carte et le territoire in Frankreich gerade wieder für Furore sorgt? Nizon: "Ich habe den Roman gelesen, und er hat mich gefangen genommen. Michel Houellebecq hat allerdings eine vollkommen andere Weltsicht, die mit Poesie nicht unbedingt viel zu tun hat. Seine Bücher laufen sehr gut, sie sind von ihrer epischen Struktur her für ein großes Publikum geschrieben, sie richten sich nicht an den eigenen inneren Menschen oder einen Partner. Sie sind marktgängig, aber von einem sehr respektablen Niveau."

Zu tun hat die für die Qualität dieser Literatur erstaunlich geringe Verbreitung der Werke Nizons vielleicht auch mit dem Etikett "Männerliteratur", das relativ schnell auf Nizons Bücher, in denen öfter "maisons de rendez-vous" besucht werden, gestempelt wurde. Zudem lehnt es dieser Autor ab, lineare Geschichten, zu schreiben: Vielmehr sind seine Bücher nach musikalischen Prinzipien konzipiert und komponiert, mit verschiedenen Tempi, Auftakten und wiederkehrenden Motiven. Und nachdem er es sich mit den deutschen Kritikern verdorben hatte, machte er sich in der Schweiz mit seinem Langessay Diskurs in der Enge (1970) schließlich auch keine Freunde. Während Walter Benjamin – mit Blick auf Robert Walser – einmal vermutet hatte, helvetische Literaturarbeit sei das Ergebnis "keuschen, kunstvollen Ungeschicks in allen Dingen der Sprache", weitete Nizon in Diskurs in der Enge diese These aus. Die schweizerische Kunst sei provinziell, es fehle ihr an Welthaltigkeit und Urbanität. Die Schweiz lehne jede Partizipation mit der übrigen Welt ab, mit Ausnahme jener durch unsichtbare Finanzverflechtungen. Der Oberteufel heiße Utopie, Stoffe gebe es nur für den Psychiater, und das Land sei insgesamt ein "Avantgardist des Todes".

Nicht nur in Nizons Büchern, deren Schauplätze Bern, Rom, der Spessart, Barcelona und Paris, immer wieder Paris sind, ist das Grenzüberschreitende wichtig, es ist dem Autor in die Familiengeschichte geschrieben. Deshalb hält er auch den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur nicht nur finanziell (25.000 Euro) für den bedeutendsten Preis, mit dem er ausgezeichnet wurde. Nizon: "Dass es eine europäische Auszeichnung ist, freut mich ungeheuer. Mein Vater war Russe, ich wuchs mit italienischen und spanischen Emigrantenkindern auf, die Eltern meines Vaters sind in London begraben, wo ich zwei Jahre lebte und meine Tochter, die in erster Ehe mit einem Engländer verheiratet war, studierte. Meine Schwester wurde durch Heirat Italienerin, ein Sohn lebt in den USA."

Das hat Nizons Blick auf Gesellschaftliches geschärft. Zwar gilt der passionierte Zeitungsleser als unpolitisch, in seinem subversiven Beharren auf Subjektivität und Individualität ist er aber politischer als manch "Engagierter". Vor allem der Regierungschef seiner Wahlheimat, Nicolas Sarkozy, ist ihm ein Dorn im Auge.

So gab er einer Schweizer Zeitung zu Protokoll: "Eine geistlose Managerregierung. Ein Präsident wie der Schneider im Himmel, (....) ein Hampelmann an der Spitze, unbefleckt von Kultur, von Format. Was doch immerhin noch eine Rolle spielte bei einem Landesvater wie Chirac, der zwar als politischer Serienkiller verschrien war; aber er war kein Parvenu, er hatte doch so etwas wie Postur, Humanität, und er war letztlich eine vertrauenswürdige bürgerliche Figur, auch wenn er hie und da in die Staatskasse griff. Während der jetzige eine französische Karikatur von Berlusconi ist, wenn man das so sagen kann.

Wenn die reale Macht auch woanders liegen mag als bei den Regierungen, so färbt die Mentalität der Regierenden doch sehr auf die allgemeine Lebenslage ab. Unter Mitterand, der eine Sphinx war, ein Künstler der Macht, aber eine wirklich große kulturelle Persönlichkeit, war man anders beschirmt als bei diesem kleinformatigen Ubu."

Bilder

"Ich kann es nicht sagen, mein Vater, vielleicht kann ich's reisen", heißt es in Nizons ungestümem Erstlingsroman Canto (1963), einem Vater- und Rombuch, das in seiner offenen Form mit nichts damals im deutschen Sprachraum Bekanntem vergleichbar ist, und Protokoll einer Reise lautet der Untertitel der Erzählung Untertauchen, die von einem Mann handelt, der im Auftrag seiner Zeitung nach Barcelona fährt und dort seiner bürgerlichen Existenz verlustig geht, indem er sich der Liebe hingibt, fraglos, selbst- und pflichtvergessen, ohne Reserve, bedingungslos, bis zur Erschöpfung. Dafür muss man bezahlen in unserer Welt.

Vielleicht hat aber bei Nizon, der einmal sagte, er hoffe, seine Bücher würden im Leser aufgehen, "wie sich japanische Papierblumen im Wasser öffnen", alles nicht mit den Worten, die für ihn die Welt bedeuten, sondern mit Bildern, der Sprachlosigkeit, begonnen: mit dem Bild des Vaters, eines Chemikers und erfolgreichen Erfinders, der in der riesigen Berner Wohnung verdämmert und früh an multipler Sklerose stirbt – ein Schock für den 13-jährigen Nizon, der ein Jahr lang in der Schule überhaupt nicht mehr "funktioniert". Mit dem Bild von arbeitenden Frauen, Mutter und Tante, welche die zwanzig Zimmer der Wohnung zur Pension umfunktionieren mussten. Mit dem Bild des gartenreichen Länggassquartiers, Nizon wird es einmal das "Revier des Falken" nennen, durch das in sanften Schwaden Schokoladegeruch der nahegelegenen Toblerfabrik zog. Mit dem Bild des jungen Mädchens schließlich, in das sich der 12-jährige Gymnasiast verliebt und das ihm auf die Frage, ob es mit ihm gehen möchte, antwortete: "Ich muss es mir überlegen."

Es sind diese Bilder, die sich durch Nizons erste Bücher Canto, Im Hause enden die Geschichten (1971), Untertauchen (1972) und auch Stolz (1975), einen Roman über die Ich-Gefangenschaft des titelgebenden Helden, der nicht zufällig an Büchners Lenz erinnert, ziehen. Später kamen andere Bilder hinzu, bewegte von Cassavetes und Fellini (ein großer Kinogänger ist Nizon noch jetzt) und statische von Chaim Soutine, Giacometti und Van Gogh, über den Nizon nach seinem Kunstgeschichtestudium promovierte.

Nimmt man nun den Quarto-Band, einen dicken Ziegel, zur Hand, der fast das gesamte Werk dieses singulären Schriftstellers umfasst, wird klar, dass zwischen Nizons Erstling, dem Erzählband Die gleitenden Plätze (1959), und seinem bislang letzten Roman Das Fell der Forelle Meilen liegen – und ein ganzes Leben. Das Leben eines Menschen, der nie eingestiegen und doch immer wieder ausgebrochen ist, der daran glaubt, dass man nur aus einer starken Emotionalität, aus einer großen Teilnahme – "das heißt entweder aus Liebe oder Hass" – schreiben kann, und der sich lange mit dem Weggehen, Grenzüberschreiten, Verlassen aufhielt.

Dichtung

Dürrenmatt schrieb in einem Brief: "Ich denke oft an dich. Ich sehe dich finster und verschlossen in Paris herumlaufen. (...) Indem ich in deinem Untertauchen lese, wird mir deutlich, was bleibt, was Bild geworden ist, was, damit es Bild geworden ist, wieder zum Wort werden kann, ist Erinnerung, und ich meine damit das Gegenteil von Erdichtung: sind doch gerade die meisten Erinnerungen Erdichtungen, oft großartige: Proust. Reine Erinnerungen aber sind Dichtungen, das heißt nicht Sprachlust, Beschwörung, Wortmagie, sondern das Fallenlassen der Gründe, die ja in der Erinnerung gleichgültig werden, so gleichgültig wie die Zwecke. Doch für die Erinnerung zahlen wir mit Leben, und um zu leben, verbrauchen wir uns, unsere Zeit. Der Tribut, den du entrichten musst, ist verdammt teuer, mag das Resultat noch so kostbar sein."

Paul Nizon, für den Schreiben etwas Körperliches ist, ging weite Wege, ausgesetzt dem Sirren der Stadt, der Verzweiflung, dem Glück, der Liebe und der lautlosen Explosion der Knospen im Frühling. "Ich bin nicht hier und dort und anderswo. Ich bin nur hier", heißt es im Bauch des Wals. Daher ist für Nizon immer das jeweils nächste Buch, Der Nagel im Kopf lautet sein Arbeitstitel, das wichtigste. Nizon wird seiner Maxime, die er früh schon in einem Essay formulierte, auch in diesem Werk treu bleiben: "Meine heutige Vorstellung von einem Buch ist diese: Dinge des Lebens ohne Gerüst als eine Art Alltag in die Seiten einschwärmen lassen. Das Ganze filtern und zur Partitur verwandeln, bis es zur Stimme erstarkt und den Ton der unerhörten Kunde gewinnt, den Einmaligkeits- und Allgemeinwert mit drängenden Untertönen des Erinnerns. Es wäre bezeugt von einem authentischen Menschen, dem sich die Zunge löst. Ich schreibe in allen meinen Büchern am selben Buch. Es ist das Buch des Lebens. Viele vor mir haben damit begonnen, ich mache weiter, andere werden es fortführen." (Stefan Gmünder, DER STANDARD/ALBUM – Printausgabe, 13. November 2010)