Das türkische Rechtssystem ist jetzt nicht eines der Überschaubarsten. Durchblick haben wäre dabei wichtig, schon allein weil der rückwärts verteidigende Teil der Gesellschaft im Land - die Hardcore-Kemalisten und andere Säkulare - die Regierung unter Generalverdacht haben: Sie würde die Justiz übernehmen und dann das Land iranisch umkrempeln.

Der Vorwurf zeigt, wie gering das Vertrauen des Oppositionslagers in der Türkei in Politik, Parteien und Wahlen ist. Und die Annahme dieser Opposition lautet: Die türkische Demokratie braucht eigentlich keine Gewaltenteilung, sondern eine Spielleitung in Gestalt der Richter, die Parteien verbietet und Politiker verurteilt, wenn sie zu muslimisch oder zu ethnisch werden.

Die Neuordnung zweier hoher Justizorgane im Zuge der Verfassungsänderung ist deshalb eine spannende Angelegenheit. Das Verfassungsgericht wie der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) sind stark erweitert worden und haben sich nach der Volksabstimmung über die Reform im vergangenen September mittlerweile konstituiert. Die Idee war, die Berufung dieser Gerichts- und Ratsmitglieder auf eine breitere Basis zu stellen. Bis dato war die hohe türkische Justiz weitgehend eine Selbstrekrutierungsmaschine: Eine kleine Zahl von Richtern und Staatsanwälten ernannte sich gegenseitig und mitunter auf Lebenszeit. Jetzt haben der Staatspräsident, in geringerem Maß das Parlament, vor allem aber die Richter und Staatsanwälte in den Justizbehörden des Landes mehr Einfluss auf die Bestellung von Verfassungsgericht und HSYK. Letzterer entscheidet über die Personalfragen in der Justiz und prägt damit langfristig Profil und Ausrichtung der türkischen Rechtsprechung. Die Frage ist natürlich: Wer kommt in die beiden Gremien - Gefolgsleute der konservativ-muslimischen Regierungspartei AKP, unabhängige Geister oder AKP-Sympathisanten, von denen man annehmen kann, sie werden sich im Lauf der Zeit von ihren Mentoren freischwimmen?

Falls es irgendjemand wirklich weiß, hat er es noch nicht gesagt. Zwar wird in diesen Wochen in der Türkei viel geschrieben und kommentiert zur Unterjochung oder zur Befreiung der Justiz, es fallen drei, vier Namen von neu gewählten Richtern zur Untermauerung der einen oder der anderen Sichtweise, doch das überzeugende Urteil über die neue Justiz steht noch aus.

Bleibt also erst einmal nur die Geometrie der Zahlen und der Macht: Statt bisher elf Verfassungsrichter gibt es nun 17. Der Staatspräsident ernennt jetzt 14 Verfassungsrichter, das Parlament wählt erstmals drei. Beide sind jedoch nicht völlig frei in der Auswahl ihrer Kandidaten. Der oberste Rechnungshof zum Beispiel hat unter den Verfassungsrichtern Anspruch auf zwei Vertreter im Gericht, die Anwaltschaftsvereinigung auf einen. Präsident und Parlament wählen aus diesen Kandidatenvorschlägen aus. Wie sieht aber nun nach der Reform das politische Gemengelage im Verfassungsgericht aus?

Die erste Überraschung: Das neue Verfassungsgericht ist zunächst mit den vier Ersatzrichtern aufgefüllt worden, die es im alten Gericht gab; dies sollen Richter sein, die noch aus der alten kemalistischen Selbstrekrutierungsmaschine kamen. Die fehlenden zwei Richter für das neue Quorum von 17 Verfassungsrichtern hat das türkische Parlament gewählt - wohlgemerkt zwei, nicht drei, auf die es eigentlich laut neuer Verfassung Anspruch hat. Zum Zug gekommen sind Hicabi Dursun und Celal Mümtaz Akinci; der eine, 45, Mitglied des Obersten Rechnungshof, in dem er seine ganze bisherige Laufbahn als Jurist zubrachte; der andere, 53, Jura-Dozent, Anwalt und auch einmal Journalist - er soll sich als Befürworter der von der AKP betriebenen Verfassungsänderung hervorgetan haben und deshalb mit dem Posten im Verfassungsgericht bedacht worden sein. Dursuns Wahl im Parlament - die erste eines Verfassungsrichters - war besonders mühselig. Das nötige Quorum von zwei Drittel der Abgeordneten fehlte, die AKP organisierte eine zweite und dritte Runde und die oppositionelle CHP verließ derweil das Plenum.

Nimmt man nur das Urteil über den Verbotsantrag gegen die AKP aus dem Jahr 2009 zur Richtschnur, dann lag das Höchstgericht schon von der Verfassungsänderung insgesamt eher auf Linie der Regierungspartei. Die Richter lehnten mehrheitlich das Parteiverbot ab. Ebenso hatten sie aber 2008 das Ende des Kopftuchverbots an den Universitäten wieder gekippt, das die AKP im Parlament durchgezogen hatte. Hasim Kilic wiederum, Präsident des Verfassungsgerichts seit 2007 und 1990 noch vom damaligen Präsidenten Turgut Özal als Höchstrichter ernannt worden, tat sich während der Vereidigung der beiden neuen Richter als großer Kritiker der "arroganten Anhänger des Status quo" hervor, also der Kemalisten.
Wie mag es in den kommenden Jahren weitergehen? Staatschef und Parlamentsmehrheit gehören derzeit zum selben Lager, doch von Abdullah Gül kann man annehmen, dass er selbst entscheidet, wen er zum Verfassungsrichter macht, auch wenn er seine Wahl mit Regierungschef Tayyip Erdogan abspricht. Weil Gül nur noch bis 2012 im Amt ist, ist es gut möglich, dass er gar keinen Verfassungsrichter mehr ernennen wird. Sein Nachfolger als Staatschef könnte allerdings Erdogan selbst sein.

(Fortsetzung folgt zum HSYK, dem Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte. Garantiert.)