Ein Maskierter zeichnet im Motelzimmer 164 das Storyboard seines mörderischen Lebens.

Foto: Viennale

Gerade in seiner Nüchternheit ist dies einer der härtesten Filme des Festivals.

Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez ist berüchtigt für das Ausmaß an Gewaltverbrechen, die beispielsweise 2009 über 2700 Menschen das Leben kostete. Im Mai des Vorjahres veröffentlichte der US-Journalist Charles Bowden, der selbst in Texas lebt und sich schon seit fünfzehn Jahren mit dem (systematischen) Morden jenseits der Grenze beschäftigt, ein ausführliches Feature im Harper's Magazine, "The sicario. A Juárez hit man speaks".

Der italienische Dokumentarfilmemacher Gianfranco Rosi, der schon früher mit Bowden zusammengearbeitet hatte, bat diesen anschließend um Vermittlung eines Zusammentreffens mit diesem "sicario" (zu Deutsch: Auftragsmörder). Die Begegnung kam zustande, das Ergebnis ist der achtzigminütige El Sicario, Room 164.

Die Möglichkeiten, dem gedruckten Porträt etwas hinzuzufügen oder entgegenzuhalten, waren auf den ersten Blick sehr eingeschränkt: Die beiden Treffen, die Rosi mitfilmte, fanden in einem anonymen Motelzimmer statt. Gleich zu Beginn des Films sieht man einen Mann, der sich ein dichtes schwarzes Netztuch über den Kopf bindet, hinter dem sein Gesicht die gesamte Zeit über verborgen bleiben wird. Auch auf zusätzliches Bild- und Tonmaterial wurde verzichtet.

Die Beschränkung auf Wesentliches ist jedoch ein unbedingter Vorteil. Zumal der bullige Maskierte, der inzwischen im Untergrund lebt, weil seine ehemaligen Auftraggeber 250.000 Dollar Kopfgeld auf ihn ausgesetzt haben, über eine sehr spezielle Technik der Memorierung und Visualisierung verfügt: Der "sicario" zeichnet, während er spricht, mit dickem Filzstift in ein Notizbuch. Er macht seine Rede anschaulich. Allerdings in teils recht abstrakten Zeichen, die dann doch wieder über weite Strecken unlesbar bleiben. Fast scheint es, als finde der Sprecher, der sehr sachlich Routinen beschreibt, welche zu Ungeheuerlichem führen, vor allem einen Halt an seinem Stift, sein Körper ein Ventil in der gleichförmigen Aufzeichnungsbewegung.

Der Namenlose führt mehr oder weniger chronologisch durch seine Lebensgeschichte. Er kommt aus geordneten Verhältnissen, ist nicht aus Not, sondern mehr aus jugendlicher Neugier mit der Drogenmafia in Berührung gekommen. Später hat ihm das Kartell nahegelegt, die Polizeischule zu absolvieren. Jahrelang war er Polizeikommandant und stand parallel im Sold Krimineller. In den Schilderungen von Folterungen und Morden wird entlang dieser an sich schon unfasslichen Begebenheiten auch der Grad der Verquickung immer deutlicher:

Der "sicario" beschreibt letztlich ein perfekt funktionierendes System, welches dem Machterhalt und der Kapitalakkumulation der Bosse dient und auf Basis staatlicher Infrastrukturen und Institutionen mittels gezielter und kontinuierlicher Unterwanderung und Korrumpierung ein Schattenregime bildet. Die Schilderung konkreter Verbrechen oder dieser ausweglos scheinenden allgemeinen Situation – es ist nicht zu entscheiden, was beklemmender wirkt. (Isabella Reicher, DER STANDARD – Printausgabe, 2. November 2010)