Konrad Kellen
Katzenellenbogen
Erinnerungen an Deutschland

€ 21,70/252 Seiten
edition selene, Wien 2003

Buchcover
Die Kindheit Konrad Kellens lässt sich kaum ohne Staunen beschreiben: drei Villen, ein Rittergut, im Haus Gemälde von Van Gogh, Monet, Rubens, die Eltern porträtiert von Max Liebermann, ein Tross an Domestiken, Kutschen. Lipizzaner, Prominente als Staffage, Albert Einstein, Marlene Dietrich, Rudi Caracciola, Max Schmeling, Palisander, chinesische Fayencen, Meissener Figurinen - was will man mehr? Ach ja, der Tourenwagen von Benz. Bürgerliche Jouissance und aufgeklärte Freiheit, die dem aristokratischen Hochmut spottet, so wie das Satte dem bloß Gereizten.

Aber was kann der gerade mal zwölfjährige Kellen wissen von seiner Position? Und was sollte sie ihn kümmern? Er ist in sie geworfen, wie man so schön sagt, behaglich und in aller Selbstverständlichkeit. Was Kellen - damals noch Konrad Katzenellenbogen - wirklich interessierte, war seine Nana, unter deren Rock er kriechen durfte, um das für das Kind noch Unaussprechliche staunend zu betasten und die wunderbare Küchenmagd Sabine, die ihm ihr nacktes Hinterteil unter der Decke entgegenstreckte - "des Hinterfleisches kühle Doppellust", wie sich Kellen mit Thomas Manns Worten erinnert. Mit vertauschten Köpfen, gewiss.

Das alles ging verloren. Unwiderruflich und in einem Schlag. Noch vor der Hitlerschen Machtergreifung wurde die Familie Katzenellenbogen durch antisemitische Umtriebe ruiniert. Dem Vater, ehedem Generaldirektor der Schultheiss-Brauerei, machten die von den Nazis durchwirkten Behörden den Prozess, und Konrad Kellen durfte seinen Vater bald im Gefängnis besuchen. Wer könnte dem jungen Kellen etwas von tragischer Fallhöhe erzählen?

Doch seltsam, der tragische Zungenschlag will sich nicht einstellen. In koketter Leichtigkeit erzählt Kellen, wie der Zellengenosse seines Vaters versuchte, diesen in die hohe und durchaus geheime Kunst des Heiratsschwindels einzuführen. "Besser gelernter Heiratsschwindler als verkrachter Generaldirektor."

Dass der Charakter Kellen diesen totalen Niedergang seiner Familie überstanden hat, ohne bitter und insgesamt hässlich zu werden, gibt Aufschluss über den unerschöpflichen Reichtum einer Seele. Es scheint so, als hätte Kellen in Amerika wirklich eine neue Heimat gefunden, nachdem ihm Hitler das Deutschsein für immer ausgetrieben hat, eine Heimat, die ihm das archetypische Schicksal als Ahasver, als ewig Umherirrenden, erspart hat. Nach der Flucht nach Amerika zieht Kellen auf alliierter Seite in den Krieg gegen Deutschland, wirkt als Besatzungsoffizier an der Entnazifizierung mit und arbeitete danach als wissenschaftlicher Konsulent bei der "Rand Corporation". Mit seinen Publikationen und Kommentaren über die US-amerikanische Sicherheitspolitik und Terrorbekämpfung machte er sich einige Feinde unter den amerikanischen Rechten.

Ein großes Glück ist auch, dass Kellen schreiben kann, dazu mit Witz und Verve. Sein Deutsch hat im amerikanischen Färbebad zwar einen streckenweise kauzigen Ton angenommen, doch der treibt das Geschehen pointiert voran und steht dem ehemaligen Sekretär Thomas Manns gut zu Gesicht.

Wenn Kellen meint, "die wirklichen Ursprünge der deutschen Hitlerei" angeben zu können, dann wird ihm wohl der an kritischen Standards geschulte Historiker brüskiert in den Arm fallen. Die Arbeitsteilung des akademischen Betriebes scheint unmissverständlich. Der Zeitzeuge bezeugt und hat sonst zu schweigen, der Historiker legt aus. Kellen aber ist "kein Leisetreter". Was er uns, wie einen Vorschlaghammer in seine Memoiren gewickelt, unterschiebt, ist eine mit Schimpftiraden gespickte, geistreiche Riposte gegen das akademische Rascheln, unter dem das Signal zu verschwinden droht. Die Geschichtswissenschaft verfahre vornehmlich apologetisch, seziere und katalogisiere das geschichtliche Material und was übrig bleibt, ist der gewöhnliche Haufen an akademischem Geschwätz. Dabei übersieht Kellen in seinem antiakademischen Furor freilich die Goldhagen-Finkelstein-Debatte, bei der die Schuld nicht der Nazis, sondern gerade der Deutschen verhandelt wird.

Trotzdem, es lässt sich ausreichend Gewinn aus den Analysen Kellens ziehen. In der Hitlerzeit waren die Deutschen "besoffen an Ideen". Sie haben sich in die selbst verschuldete Unmündigkeit einer Volksbewegung begeben und die von Kellen forcierte Suff-Metapher passt hier gut, weil auch der besoffene Delinquent zwar durchaus schuldunfähig ist, sich aber diesen Zustand anrechnen lassen muss. Er hätte wissen müssen, wozu er in diesem Extrem der menschlichen Existenz fähig ist. Genauso die Deutschen. Sie hätten wissen müssen, was Hitler mit ihrem Gewissen, das sie ihm förmlich aufdrängt hatten, das sie ihm scharenweise delegiert hatten, anzufangen wusste. Denn Hitler hatte seine Absichten nie verhehlt. Auch die Diktatur hat einen nicht aufgehenden demokratischen Rest, der jedes Volk verantwortlich macht für seine Geschichte. Deutschland also war Hitlers "dickes, hilfloses Liebchen mit den kalten blauen Augen und der wilden Unterwerfungssucht".

Kellen öffnet uns die Augen für das durchaus private, also unpolitische, Verhältnis zwischen Hitler und Deutschland und weiters für die enge Beziehung der Begriffe Rasse und Geschlechtlichkeit. Was der verklemmte deutsche Mann kaum ertragen konnte, war, dass der elegante jüdische Libertin auch deutsche Frauen anzog und "den reichen oder selbst nicht so reichen Juden die blonden, erregenden deutschen Mädchen nur so in die Betten glitten, wie die Blätter zu Boden gleiten im Herbst!"

Die intellektuellen Steigbügelhalter die ihren Afterdienst an Hitler leisteten, waren für dessen Aufstieg, das macht uns Kellen anschaulich, von unschätzbarem Wert, wichtiger vielleicht sogar als die gesamte SA. Nicht weniger die Industriellen, denen Hitlers Gabe, das Volk nicht nur aufzuwiegeln, sondern es für ihre Zwecke auch um- und wieder abzuwiegeln, die Augen glänzen machte. Eine Fortsetzung von Kellens Memoiren ist geplant. Wir warten gespannt. (DER STANDARD, Printausgabe vom 3./4.5.2003)