Rudolf de Cillia: "Wichtig ist, dass ein Mensch sich an seinem Arbeitsplatz verständigen kann."

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daStandard.at: Das schlechte Abschneiden Österreichs bei der PISA-Studie wurde vielerorts mit dem hohen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund in Zusammenhang gebracht. Was bedeutet ein hoher Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund für das Leistungsniveau der Schulen?

Rudolf de Cillia: Es ist ein No-Na-Ergebnis, wenn man feststellt, dass Migrantenkinder schlechter abschneiden als solche mit deutscher Muttersprache, schließlich wurden die Tests auf Deutsch durchgeführt. Ich würde auch schlechter abschneiden, wenn ich einen Test auf Englisch oder Französisch machen müsste. Es ist logisch, dass man in der Erstsprache stärker ist. Es gibt aber Einwanderungsländer, wo das nicht der Fall ist, Kanada oder Singapur. Dort ist die Sprachförderung intensiver, weil diese Länder sich andere Segmente von Zuwanderern aussuchen, sie bestimmen von vornherein, wer einreisen darf.

Damit betreiben sie Elitenzuwanderung, wenn man so will. So ein PISA-Test hat eine soziale Streuung, Angehörige unterer sozialer Schichten schneiden schlechter ab als AHS-Schüler, und in dieser Hinsicht haben Migranten einen doppelten Statusnachteil. Viele stammen aus unteren Schichten, die Eltern üben manuelle Berufe aus und haben eine andere Sprache.

daStandard.at: Eigentlich sind Kinder sozusagen berühmt dafür, Sprachen schnell und leicht zu erlernen. Warum sind die Deutschkenntnisse bei vielen Kindern mit Migrationshintergrund trotzdem so schlecht?

de Cillia: Es kommt darauf an, wann man eine Sprache lernt. Wenn ein Kind bis zu seinem sechsten Lebensjahr nur die Muttersprache zu Hause verwendet hat und keinen Kontakt mit der deutschen Sprache hatte, wird es schwierig, in der Schule mit den anderen Kindern gleichzuziehen. Man braucht viel Zeit und gute Bedingungen, um ein gutes Sprachniveau zu erreichen. Wenn man etwas früher mit dem Erwerb der Zweitsprache beginnt, im Alter von drei oder vier Jahren, dann ist man auf die Schule schon viel besser vorbereitet.

daStandard.at: Mehrsprachigkeit wird auf diplomatischer und internationaler Ebene immer als ein erstrebenswertes Ziel proklamiert. Sind aber Migrantenkinder stolz auf ihre Zweisprachigkeit?

de Cillia: Die Mehrsprachigkeit mit Minderheitensprachen wird häufig viel weniger geschätzt, verdrängt und als ein Defizit wahrgenommen. Die Politik zielt darauf ab, die Defizite zu sehen, und nicht die Ressourcen. Wenn man die Ressourcen anschaut, weiß man, dass es einen großen Bedarf an hochqualifizierten Menschen mit zweisprachigen Kompetenzen gibt. Es wäre wichtig, mehr zweisprachige Kindergärtnerinnen, Lehrer, Ärzte oder Polizisten zu haben.

Ob die betroffenen Kinder stolz auf ihre Zweisprachigkeit sind, hängt ganz stark von der Umgebung ab. Wenn im Kindergarten oder in der Schule vermittelt wird, es ist toll, was du kannst, sind sie stolz. Wenn man den Kindern aber verbietet, in der Pause ihre Sprache zu verwenden oder sich über die Erstsprache der Kinder lustig macht, genieren sich die Kinder und verstecken ihre Mehrsprachigkeit.

daStandard.at: Ist es sinnvoll, die Menschen über die Integrationsvereinbarung zu zwingen, Deutsch zu lernen?

de Cillia: Bei solchen Zwangsmaßnahmen scheint es sich um Schikanen zu handeln, denn sie betreffen nur Zuwanderer aus Drittländern. Zuwanderer aus Tschechien, Portugal, Spanien oder Ungarn können ungehindert zuwandern und müssen keine Prüfung ablegen. Es kann also nicht wirklich um Sprachkenntnisse gehen.

Man müsste kostengünstige Kurse anbieten, zum Beispiel mit einem Selbstbehalt von einem Euro und nicht fünf Euro, wie es derzeit der Fall ist. Die Sprachkurse müssen zielorientiert sein und niederschwellig, wie zum Beispiel die Kurse „Mama lernt Deutsch“, die auch Mütter mit kleinen Kindern besuchen können. Es kann ja auch nicht darum gehen, dass man perfekt Deutsch lernt. Nur Spione müssen perfekt Deutsch sprechen, um nicht aufzufallen. Wichtig ist, dass ein Mensch sich an seinem Arbeitsplatz verständigen kann.

daStandard.at: Was kann ein Lehrer tun, wenn er mit Schülern mit mangelnden Deutschkenntnissen konfrontiert ist?

de Cillia: Als Einzelperson steht man da auf verlorenem Posten. In einer solchen Klasse sind die Erfolgsprognosen schlecht, aber das ist nicht die persönliche Verantwortung des Lehrers, das ist eine Systemfrage. Man braucht zwei Lehrer, wobei ich dafür plädiere, dass man die Kinder auch zweisprachig alphabetisiert, wie es etwa in Burgenland und Kärnten bei den Kroaten und Slowenen gemacht wird. Institutionelle Begebenheiten sind auch wichtig, zum Beispiel ein kostenloser Kindergarten, damit die Kinder möglichst früh intuitiv die Sprache erlernen können. Für einen einzelnen Lehrer sind die Möglichkeiten begrenzt.

daStandard.at: Türkische Kinder und Jugendliche werden häufig als eine besondere Problemgruppe dargestellt, wenn es um den Erwerb der deutschen Sprache geht. Was ist da dran, und woran könnte das liegen?

de Cillia: Kinder aus islamischen Ländern sind stärker ausgegrenzt, seit 9/11 ist der Islam ein Feindbild in unserer Gesellschaft. Meine Kollegin Katharina Brizić hat herausgefunden, dass Kinder mit türkischer Muttersprache wesentlich schlechter als Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien abschneiden. Das liegt daran, dass das Bildungssystem im ehemaligen Jugoslawien besser war, und dass die Kinder aus der Türkei oft ein schlechteres sprachliches Kapital mitbringen. Viele Kinder stammen aus kurdischen Familien, in denen rudimentäre Türkischkenntnisse an die nächste Generation weitergegeben wurden, wodurch der Erstspracherwerb bereits stark eingeschränkt wurde. Diese Gründe dafür sind also sozialer, historischer und gesellschaftlicher Natur, es geht hierbei nicht um Sprache und Kultur. (daStandard.at, 28.10.2010)