Privatisierte Küstenabschnitte? Blockierte Aussichten? Andreas Fogarasi regt eine kritische Innensicht auf Istanbul an.

"Panorama (The Right of View)", Istanbul

Foto: Andreas Fogarasi

Clemens von Wedemeyer: "Sun Cinema" in Mardin

Foto: Anne Katrin Feßler

Mark Wallinger: "Sinema Amnesia" in Çanakkale

Foto: Anne Katrin Feßler

Minna Henriksson: "Aşik Olan Doğru Söyler" (The one Who is in Loven speaks the truth), in Trabzon

Foto: Anne Katrin Feßler

Joanna Rajkowska: "Walter Benjamin in Konya" (Detail), Konya

Foto: Anne Katrin Feßler

Fünf europäische Künstler schufen im öffentlichen Raum fünf türkischer Partnerstädte intensive Arbeiten.

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Der Busfahrer scheint zu fluchen, als er schließlich über die richtige Schotterpiste brettert. Das Licht ist golden, die Sonne steht tief: Sonnenuntergang beim Sun Cinema, so hat man sich in Mardin die perfekte Ouvertüre für Clemens von Wedemeyers Open-Air-Kino vorgestellt. Aber der Wind braust sachte auf, und Abermillionen Sandkörnchen trüben die Luft.

Der Blick auf die mesopotamische Ebene, die sich unterhalb der uralten Stadt nahe der syrischen Grenze ausbreitet, bleibt atemberaubend. Und auch der Stimmung kann der kleine Sandsturm nichts anhaben. Kinder tollen über Steinstufen, die im rauen Gelände eine Art Arena formen. Die Erwachsenen plaudern. Statt Popcorn reicht man geröstete Erbsen und Limonade. Die Livekamera von CNN Turkey schwenkt an langem Arm über das Areal. Wären nicht auch fünf Polizeiwagen und eine Ambulanz geparkt, nichts würde die Idylle stören. Das Massaker von Bilge nahe Mardin 2009 war zwar tragischer Einzelfall, aber in der Region, wo sich türkische Truppen immer wieder gegen die PKK in Stellung brachten, ist man vorsichtig geworden.

Stadt ohne Kino

Mit großer Gastfreundschaft und einem strahlenden Lachen begegnet man den Presseleuten, die hier für ein paar Stunden einfallen. Ein tolerantes Stück Erde, wo Muslime, Christen und Juden stets friedlich zusammenlebten, heißt es. Bis 1915. Denn während des armenischen Völkermords wurden hier gleich alle Christen abgeschlachtet. Ein dunkles Kapitel in der lichtdurchfluteten Stadt.

Mit seinem Projekt für den öffentlichen Raum reagiert Wedemeyer, der rund drei Monate hier verbracht hat, auf den Umstand, dass der 80. 000-Einwohner-Stadt das Kino einmal vollständig abhanden gekommen war. Inzwischen ist dieser Missstand aufgehoben. Auch dank der Initiatoren des heuer zum vierten Mal stattfindenden Filmfestivals Sinemardin. Dennoch hielt der Künstler es für wichtig, den Anwohnern, deren Wohnort im Sinne der touristischen Vermarktung zunehmend musealisiert wird, einen öffentlichen Raum zurückzugeben. Denn der Kinobesuch ist, so einige Stimmen in der begleitenden Filmdokumentation, mit mehr verbunden als allein mit dem Film-Schauen selbst.

Auch Sun Cinema ist mehr als nur ein Open-Air-Kino: Die Leinwand funktioniert auch als Monument, dessen verspiegelte Rückseite das Licht der untergehenden Sonne in die karge Ebene reflektiert; und sein Projektor kann im Sinne eines Wanderkinos in Mardin aufgestellt werden. Ein teurer Apparat, den sich die Gemeinde wohl nie geleistet hätte. Der einst florierende Grenzhandel war wegen des Irakkriegs lange stark eingeschränkt; die Region, die jetzt auf den Tourismus hofft, hat mit großer Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Kurz blitzt im Geist das Wort "Entwicklungshilfe" auf, ebenso wie "Kulturexport".

Künstleraustausch

Von Wedemeyers Arbeit ist Teil von My City, einem riesigen Kulturaustauschprojekt, das das British Council initiiert hat: Fünf europäische Künstler realisieren nach Aufenthalten in fünf völlig unterschiedlichen türkischen Städten (Çanakkale: Mark Wallinger, Istanbul: Andreas Fogarasi, Konya: Joanna Rajkowska, Trabzon: Minna Henrikkson) Projekte für den öffentlichen Raum. Auch die Künstler aus der Türkei, die bis auf eine Ausnahme aus den Metropolen Ankara und Istanbul stammen, wurden in mehrstufigen Verfahren von Jurys ausgesucht. Für Österreich nahm Silvia Eiblmayr, 2009 Biennale-Kommissärin in Venedig, teil.

In Warschau, Berlin, Dortmund, Helsinki, London und Wien werden sie allerdings weniger öffentlich sichtbare Zeichen setzen können: Statt Projekte im Stadtraum werden sie ihre Spuren in Form von Publikationen und Ausstellungen hinterlassen oder an Kunsthochschulen unterrichten. In Wien wird Gülsün Karamustafa im Frühjahr mit der Akademie der bildenden Künste eine Arbeit realisieren.

Ziel von My City ist es, über die Kultur Dialog und Annäherung zwischen Türkei und Europa zu fördern, Vorurteile aufzuweichen und auch unbekanntere Städte einmal in den Fokus zu rücken. Etwa Trabzon, das in den letzten Jahren hauptsächlich unangenehm Schlagzeilen machte: In den ultranationalistischen Zirkeln der Stadt am Schwarzen Meer sollen 2007 die Fäden für den Mord an Hrant Dink, dem Herausgeber der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos gezogen worden sein. Die Finnin Henrikkson hat u. a. gemeinsam mit Jugendlichen Qualitäten Trabzons jenseits des Nationalismus herausgekitzelt; hat abseits kultureller Eliten kooperiert und den von Umsiedelung bedrohten Bewohnern eines Stadtviertels in Leuchtbuchstaben ein sichtbares Zeichen ihres Protests gegeben. Auch in Istanbul ist Umsiedlung ganzer Stadtviertel (etwa Sulukule) und der Abriss alter Häuser an der Tagesordnung. Andreas Fogarasi hat an einem Aussichtspunkt in Kadiköy ein Panorama installiert, das dem Betrachter jedoch die Sicht verweigert. Er zwingt zur reflexiven Innensicht und stößt mit Textfragmenten das Nachdenken der Stadtbewohner über das durch vielerlei Bauvorhaben bedrohte Right of View an.

Finanziert wird das mit ungeheurem Aufwand und Herzblut organisierte Mammutprojekt hauptsächlich durch das von der EU-getragene Cultural Bridges-Projekt: 1,6 Millionen Euro steuern es bei, das British Council trägt rund 350.000 weitere Euro. Dass zeitgleich zum Kulturhauptstadtjahr in Istanbul (dessen positiver Effekt von vielen Seiten aufgrund der mehrmals wechselnden Leitung angezweifelt wird) so viel Geld lockergemacht wurde, hat freilich politische Gründe. Das Projekt ist in Relation zur EU-Erweiterung zu sehen. Und das erklärt auch, dass sich Beitrittsbefürworter Großbritannien so engagiert.

Auch der britische Economist macht in seiner jüngsten Ausgabe deutlich, dass die Türkei, wirtschaftlich betrachtet, bereits das "China Europas" ist, aber: "Mit jedem Tag, der vergeht, wird die EU die Türkei mehr brauchen als die Türkei die EU." Man habe der Türkei ein wenig zu lange die Karotte vor die Nase gehalten. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD - Printausgabe, 28. Oktober 2010)