Gerhard Jagschitz hat stets darauf geachtet hat, den "Elfenbeinturm" zu verlassen und sein Fach einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am 27. Oktober wird der Zeithistoriker 70 Jahre alt.

Foto: STANDARD/Heribert Corn

Wien - Seine Sammlerwut hat das Bildarchiv des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien zu einer der bedeutendsten Bild-Dokumentationen der jüngeren Geschichte Österreichs gemacht: Mit ebensolcher wissenschaftlicher Akribie hat Gerhard Jagschitz in fünfjähriger Arbeit ein Gutachten erstellt, mit dem er 1992 im Prozess gegen den Herausgeber der rechtsextremen Zeitschrift "Halt", Gerd Honsik, die sogenannte "Auschwitz-Lüge" vom Tisch gewischt und die von Honsik und seinen Gesinnungsgenossen immer wieder geleugnete Massenvernichtung von Menschen und die Existenz von Gaskammern im Konzentrationslager Auschwitz als eindeutig erwiesen bestätigt hat. Am Mittwoch feiert der Zeitgeschichtler seinen 70. Geburtstag. Aktiv ist er aber noch immer, derzeit ist er an der Planung eines Museums über die Geheimdienste in Österreich beteiligt.

Mit nüchterner, wissenschaftlicher Distanz hat sich Jagschitz nicht nur im Honsik-Prozess als Gutachter profiliert, sondern auch im Wiederbetätigungsprozess gegen Gottfried Küssel 1994, in dem er zu dem Ergebnis kam, dass es sich bei der Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition (VAPO) um eine eindeutig nationalsozialistische Gruppe handle.

Raus aus dem Elfenbeinturm

Jagschitz, der immer darauf geachtet hat, den "Elfenbeinturm" zu verlassen und sein Fach einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, fordert stets einen differenzierten Blick auf die Geschichte - und rüttelt so an so manchem österreichischen Mythos, von den Habsburgern als "Synonym für die gute alte Zeit, die es zwar nie gegeben hat, die wir aber brauchen, weil wir auf etwas stolz sein wollen" bis zu Dollfuß ("Er ist nicht der Heilige oder der Arbeitermörder, sondern sowohl als auch").

Jagschitz ist auch stets Mahner und Kritiker der aktuellen Politik geblieben: Der Historiker hat nie einen Hehl aus seiner Ablehnung des EU-Beitritts Österreichs gemacht, den er mit einem "Souveränitätsverlust" verbindet; 2008 war er Unterzeichner des "Manifests für ein demokratisches Europa" gegen den EU-Reform-Vertrag. Politisch engagiert hat sich Jagschitz auch im Präsidentschaftswahlkampf 1998, als er in einem Proponentenkomitee die Kandidatur von Gertraud Knoll unterstützte. Anlässlich des Eurofighterausschusses 2007 attestierte Jagschitz, der schon 1995 vor der wachsenden "Partei der Nichtwähler" gewarnt hatte, Österreich einen "bananenrepublikanischen Hauch" und kritisierte die Tendenz der Politik, sich immer mehr in den Dienst weniger Interessensgruppen zu stellen.

Gerhard Jagschitz wurde am 27. Oktober 1940 in Wien geboren. Er studierte an der Uni Wien Psychologie, Pädagogik, Volkskunde, Ägyptologie, Deutsche Philologie und Geschichte und wurde nach seiner Dissertation aus Neuerer Geschichte über "Die Jugend des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß" 1968 promoviert. Dem Institut für Zeitgeschichte ist der Historiker seit dessen Gründung im Jahr 1966 verbunden. Von 1968 bis 1985 war er Assistent an diesem Institut, habilitierte sich 1978 und wurde 1985 zum Universitätsprofessor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte ernannt. Zwischen 1994 und 2001 war er Vorstand des Instituts.

Aufgabe eines Historikers: Zuhören

Als seine Forschungsschwerpunkte nennt Jagschitz, Nationalsozialismus, Terror und Vernichtung im Dritten Reich, Auschwitz, Zweite Republik und Demokratie, Visual History, Photographie, Österreichische Identität und Österreich in Europa. Neben der Bedeutung von Bilddokumenten betont Jagschitz auch jene audiovisueller Dokumente, und zwar nicht nur solcher, die das politische Geschehen festhalten, sondern auch den Alltag der Bevölkerung. Überhaupt sieht Jagschitz das Zuhören als Aufgabe eines Historikers: Aus Erzählungen von Zeitzeugen habe er Dinge erfahren, die er zuvor in keinem Dokument gefunden habe. (red/APA)