Es ist Umbruchzeit in der Türkei, sagt Holger Nollmann, der Pfarrer, und vor ihm, in der ersten Reihe in der Paulus-Kirche in Tarsus, sitzt der deutsche Bundespräsident mit seiner Frau. Eine große türkische Fahne, rot und mit dem Halbmond, scheint durch eines der Kirchenfenster. Auf den Balkonen der Hochhäuser rund um das Kirchengelände stehen Anwohner und hören deutsche Kirchenlieder.

Ein ökumenischer Gottesdienst für einen Staatsgast aus Europa in der Stadt, in welcher der Apostel Paulus wahrscheinlich geboren wurde, und in jenem Gebiet im Süden der heutigen Türkei, wo einst die christliche Kirche entstand, wäre vor einem Jahr noch undenkbar gewesen. Jeder in der Paulus-Kirche weiß das.

Doch Christian Wulff, der deutsche Staatschef und erst seit drei Monaten im Amt, hat die Gleichbehandlung von Muslimen und Christen in Deutschland wie in der Türkei zu seinem Thema gemacht. Bei seinem Türkeibesuch vergangene Woche schlug Wulff der Regierung eine Art Handel vor: Wenn der Islam zu Deutschland gehört, wie er in seiner vieldiskutierten Rede zum deutschen Nationalfeiertag am 3. Oktober feststellte, dann sollen auch die Christen in der Türkei uneingeschränkte Religionsfreiheit genießen.

Davon konnte bisher nicht die Rede sein. Die Paulus-Kirche ist die meiste Zeit ein Museum, Gottesdienste bedürfen einer behördlichen Genehmigung. Immerhin gibt es mittlerweile ein Hinweisschild zur Kirche am Ortseingang von Tarsus auf der schnurgeraden Straße zwischen Adana und Mersin, der Hafenstadt am östlichen Mittelmeer.

"Präsident der Christen"

Der Gottesdienst in Tarsus war allerdings die dritte symbolträchtige Messe in der Türkei in diesem Jahr. Zu Maria Himmelfahrt am 15. August erlaubte die Regierung eine Feier im Kloster Sümela bei Trabzon an der Schwarzmeerküste - die erste seit 84 Jahren; im September kamen mehrere Tausend armenische Gläubige zur Wiedereröffnung der Heilig-Kreuz-Kirche auf der Insel Akdamar im Van-See. Während Wulffs Türkeibesuch gab sein türkischer Kollege Abdullah Gül eine bis dahin nie gehörte Erklärung ab: Ja, er sei auch der Präsident der Christen und Juden in der Türkei, sagte Gül auf die Frage eines Journalisten.

"Es war wirklich eine bedeutende Antwort für uns" , bestätigt später Ispir Coskun Teymur, der griechisch-orthodoxe Pater aus Mersin, der im Gottesdienst in Tarsus das Glaubensbekenntnis auf Arabisch vortrug (Mersin gehört zum Patriarchat in Damaskus). "Wir zahlen Steuern, wir leisten den Militärdienst ab, aber wir haben nicht dieselben Rechte" , sagt Teymur. Obwohl gesetzlich möglich, kommen Christen in der Türkei in der Praxis nicht in den Staatsdienst.

Gemeinden ohne Einnahmen

Ein Gemeinde zu führen wie in Mersin mit nur 300 orthodoxen Familien bei insgesamt 620.000 Einwohnern ist ein schwieriges Geschäft. Die Kirche darf keine eigenen Einnahmen haben, ihr Konto wird von den Behörden genau kontrolliert. Teymur weiß, wovon er spricht: Er hat jahrelang als Buchhalter für ein türkisches Unternehmen in Libyen gearbeitet, denn nach dem Studium in Istanbul fand er Anfang der 1980er-Jahre keinen Job. Seinen christlichen Vornamen "Spiro" hatte er zuvor schon in "Ispir" ändern lassen.

Und dann sind da noch die Gewalttaten gegen Christen, zuletzt in Iskenderun, nicht weit von Mersin. Luigi Padovese, der Vorsitzende der türkischen Bischofskonferenz, war dort vergangenen Juni von seinem Fahrer erstochen worden. Nur einen Tag vor dem Mord habe er mit Padovese noch eine Kirche eingeweiht, die lange als Kino gedient hatte, erinnert sich Teymur, der orthodoxe Pater. "Um ehrlich zu sein: Wir haben immer Angst." (Markus Bernath aus Tarsus/DER STANDARD, Printausgabe, 25.10.2010)