Für ärgerliche Gefühlsaufwallungen sind nicht immer die anderen verantwortlich

Foto: Photodisc

Wer bereit ist, sich zu ärgern, braucht im Berufsalltag nicht lange nach Anlässen zu suchen. Die gibt es reichlich. Und ohne Ende. Doch was bringt es, auf der Stelle unwirsch zu reagieren, außer sich ein ums andre Mal dadurch aus dem Konzept bringen zu lassen und selbst angreifbar zu machen? Und vor allen Dingen, sind eigentlich immer nur "die anderen" und "die Umstände" die Auslöser solch eruptiver Gefühlaufwallungen?

Von der Mehrzahl wird das so gesehen. Für die meisten ist klar: Die Belastungs-, Frustrations- und Stressgefühle, mit denen sie sich herumplagen und unter denen sie leiden, werden von außen, durch "die anderen" und "die Umstände" bewirkt. Ganz selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass ein anderer, jemand aus dem Kollegenkreis, der Chef, ein Kunde oder die Umstände - eine unvorhergesehene Verzögerung im Arbeitsablauf, geschäftlich zwingend notwendige Überstunden etc. - Auslöser von Gefühlswallungen sein können, die bis zu massiver Aggression reichen können.

Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht! Das verdeutlicht schon eine Tatsache, die jeder kennt: In ein und derselben Situation haben Menschen oft völlig unterschiedliche Gefühle. Die einen schäumen, haben die "lieben Kollegen" mal wieder etwas versaubeutelt oder sich im Ton vergriffen, die anderen grinsen nur müde. Der eine Vorgesetzte gerät regelmäßig in Wallung und wertet es als Majestätsbeleidung, lassen seine Mitarbeiter durchblicken, dass sie auch eine eigene Meinung haben, der andere erkennt darin seine überlegenen Führungskünste und fühlt sich bestätigt.

Andere Zeit, andere Reaktion

Doch nicht genug damit. Menschen reagieren auch zu verschiedenen Zeiten auf ein gleiches Ereignis unterschiedlich. Kommt beispielsweise am Arbeitsplatz der geplante Tagesablauf durcheinander, dann hängt es in aller Regel von der momentanen nervlichen Verfassung ab, wie darauf reagiert wird. Ganz charakteristisch dafür die folgende Aussage: "Bin ich gut drauf, dann bin ich gelassen, dann lasse ich alles an mich herankommen. Ich bin dann auch zuversichtlich. Aber bin ich angespannt und nervös, dann reagiere ich mit Erregung, Unsicherheit und Angst. Und das wirkt sich auch auf mein Handeln aus."

Es hängt also auch nicht unwesentlich von dem augenblicklichen Gestimmtsein ab, wie worauf reagiert wird. Von Gefühlen also, die nicht von "den anderen" und "den Umständen" hervorgerufen werden, sondern die einen inneren Zustand spiegeln, wie die Bemerkung zeigt. Charakteristisch dafür auch die Selbsterkenntnis: "Heute bin ich aber mit dem linken Fuß aufgestanden!"

Und warum das? Zum einen beeinflusst die "Körperchemie", also biochemisch-hormonelle Vorgänge, unser Fühlen und Verhalten. Ebenso tages- und jahreszeitliche Rhythmen. Die Forschung kommt diesen Zusammenhängen immer mehr auf die Spur. Viel zu wenigen ist das im alltäglichen Auf und Ab der Empfindungen bewusst. Abweichungen vom normalen Stoffwechselgeschehen, ausgelöst durch Schlafmangel, individuell wenig bekömmliches Essen und Trinken, Bewegungsmangel beispielsweise können unsere psychische Verfassung spürbar beeinflussen. Zum anderen aber auch im Untergrund rumorende unverarbeitete, verdrängte, ungelöste Probleme und Erfahrungen, die auch schon länger zurückliegen können.

Was nicht heißen soll, "die anderen" und "die Umstände" seien gänzlich unbedeutend für unseren Gefühlshaushalt. Aber: Wie wir auf andere reagieren, welche Gefühle wir unter den jeweiligen Umständen empfinden, ob wir von der Situation regiert werden, also ob wir uns ihr eher ausgeliefert fühlen, oder ob wir die Situation regieren, sie mithin aktiv angehen und mit ihr umgehen, das hängt ganz wesentlich von unserer Stimmung ab. Soll heißen, dem ausgedehnten emotionalen Zustand, der sowohl die Lebensauffassung einer Person als auch ihr Auftreten für eine gewisse Zeit bestimmen kann.

Das führt zu einem weiteren wichtigen Faktor im menschliche Agieren beziehungsweise Reagieren: wie wir das Geschehen um uns herum, wie wir "die anderen" und "die Umstände" wahrnehmen, wie wir sie bewerten. Sehen wir "die anderen" oder "die Umstände" als für uns bedrohlich an, wodurch unsere Bedürfnisse und/oder unser Wollen beziehungsweise unsere Ziele beeinträchtigt werden, erkennen wir darin etwas für uns Ungünstiges oder Negatives, dann spüren wir Spannung und ungute Gefühle. Fällt die Bewertung umgekehrt aus, fühlen wir uns oft nicht nur erleichtert und entspannt, sondern förmlich beflügelt, angespornt.

Und wir bewerten fortlaufend alles um uns herum. Meist ohne großes, langes Nachdenken automatisch. Unbewusst also. Und was das Empfinden und Erleben im Berufsalltag noch ein wenig komplexer macht: Wir bewerten nicht allein "nach außen"! Wichtiger noch, nach Lage psychologischer Erkenntnisse sogar viel wichtiger, ist unsere Bewertung "nach innen"!

Für die Reaktion auf "die anderen" und "die Umstände" ist es von höchster Bedeutung, wie wir uns selbst sehen und einschätzen. Diese Selbstbewertung beeinflusst uns enorm. Stufen wir uns als eher minderwertig, unfähig, voller Fehler, tendenziell als Unterlegene und Versager ein, dann haben wir wenig gute Gefühle in und zu uns. Und damit keine gute Basis für einen unaufgeregteren Umgang mit der (Berufs-)Welt und ihren häufigen Ungereimtheiten.

Positive Eigenwahrnehmung

Nehmen wir uns aber trotz einiger augenzwinkernd eingestandenen Schwächen als liebenswert, tüchtig und wertvoll wahr, dann tragen auch unsere Gefühle diese helle Farbe. Und entsprechend innerlich ruhiger, unverkrampfter, gelassener treten wir den anderen und den Umständen gegenüber. Bewerten wir uns selbst als kompetent, leistungsfähig und tüchtig, dann sehen wir alles tendenziell als viel weniger schwierig an, dann trifft uns eine Kritik oder, so eine häufig gehörte Bemerkung, "ein saublödes Verhalten" viel weniger. Sehen wir uns aber eher als Underdogs und fühlen wir uns unsicher, dann, so eine sehr zutreffende Beschreibung dieser Situation, "haut alles mit voller Wucht in einen rein und trifft einen wie ein Hammer!" Dann "werden an sich selbst einfache Situationen schwierig, man fühlt sich ausgeliefert, ist ständig irgendwie gereizt."

Wie kommt es zu diesen so unterschiedlichen Bewertungen? "Mitspieler" dabei sind unter anderem Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, Bewertungen, die wir von anderen übernehmen, unser Wissensstand, aber auch Informationen von anderen, aus Büchern, der Presse, von Weiterbildungsmaßnahmen.

Und natürlich Erfahrungen, die wir mit uns selbst gemacht haben. Haben wir uns tendenziell als kraftvoll, zupackend, bewältigungsfähig und geschätzt erfahren, leben wir aus dem Bewusstsein heraus, dass wir uns in menschlich wie sachlich schwierigen Situationen bewährt haben, dann bewerten wir uns eher positiv und zuversichtlich. Und agieren und reagieren selbstverständlich auch entsprechend. Erleben wir uns in alltäglichen Situationen aber genau gegenteilig, dann bewerten wir uns nicht nur ungünstig, dann verhalten wir uns auch unsicherer. Was oft zu leichterer Entflammbarkeit führt.

Nicht minder bedeutsam für unsere Selbstbewertung ist die Bewertung durch andere. Haben uns Eltern, Lehrer, Professoren, Ausbilder oder Vorgesetzte ungünstig bewertet und neigen wir dazu, ungünstige Bewertungen anderer über uns quasi automatisiert anzunehmen, dann drückt das auf unser Selbstbild. So eine Bewusstseinslage kann zu vermeintlicher Lebensuntüchtigkeit und Hilflosigkeit führen. Man traut sich einfach nicht mehr - zu. Dieser Tatsache sollten sich insbesondere Menschen stets bewusst sein, die ausbildend und führend mit anderen umgehen. Lebensuntüchtigkeit und Hilflosigkeit sind auch eine herstellbare Eigenschaft. Der berufliche Alltag zeigt das gar nicht einmal so selten. Beispielsweise bei Versetzung in eine andere Arbeitsgruppe oder bei Chefwechsel. Plötzlich wird aus einem Versager eine geschätzte Arbeitskraft.

Wer immer nur zu hören bekommt, was er alles nicht kann, wie ungeschickt er sich anstellt, wie tölpelhaft er sich benimmt und was an einschlägigen Äußerungen noch so alles im Kollegen- und Vorgesetztenmund im täglichen Gebrauch ist, hat schließlich gar keine Chance mehr, in seiner Umgebung ein anderes Bild von sich zu zeichnen. Seine Einschätzung ist fixiert. Mit einschlägig vorschnellem Urteilen deshalb vorsichtig hantieren!

Grundausstattung

So weit, so aufschlussreich. Doch die ganze Wahrheit ist das noch immer nicht. Das ist sozusagen erst das "oberirdische" Verhaltensgebäude. Darunter gibt es noch ein "Fundament". Niemand kommt als weißes, unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Auch der Mensch wird mit einer bestimmten, sein Empfinden und Verhalten vorzeichnenden Grundausstattung geboren, als - psychologisch ausgedrückt - Persönlichkeit. Mit einzigartigen psychologischen Merkmalen also, die eine Vielzahl von (offenen oder verdeckten) charakteristischen konsistenten Verhaltensmustern in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeitpunkten beeinflussen.

Ein wesentliches Merkmal darunter ist das Temperament, also die biologisch gegebene typische Reaktionsweise, die sich schon bei oder kurz nach der Geburt zeigt und sich vor allem in der Emotionalität und im Aktionsniveau äußert. Kurz, in dem, was gemeinhin auch als Charakter bezeichnet wird. Dieser Begriff ist gleichbedeutend mit Persönlichkeit, wenn er benutzt wird, um auf das gesamte Muster regelmäßig wiederkehrender Verhaltensweisen einer Person zu verweisen. Wird er hingegen zur Bewertung der Qualität der Persönlichkeit benutzt, so drückt er ein Urteil über beispielsweise die Moral, die Werte und andere Attribute der Person aus.

Allerdings ist nach derzeitigem Stand der Erkenntnis und Einschätzung niemand dazu verdammt, ein Leben lang ausschließlich in der von der biologischen Grundausstattung vorgezeichneten Spur zu laufen. Niemand ist ihr Sklave. Es sei denn, er macht sich durch die Missachtung der einzigartigen menschlichen Fähigkeit zur Selbsterkenntnis dazu, die es ermöglicht, die eigenen Weisen des Empfindens und Verhaltens zu erfassen und ihnen eine andere Ausprägung geben. Das ist ein beachtliches Stück tagtäglich neu zu leistender Arbeit. Doch sie zahlt sich aus. Nicht allein, weil Selbsterkenntnis die beste Ärgerbremse für den Berufsalltag ist und damit vor unnötiger und unsinniger Kräfteverschwendung schützt. Vielmehr noch, weil Selbsterkenntnis dazu beiträgt, sich selbst zu stabilisieren, und damit vor dem permanenten Auslenken durch "die anderen" und "die Umstände" bewahrt. Und so für eine persönliche psychomentale Kräftereserve sorgt, die in der unablässig anforderungs- und konkurrenzintensiver werdenden Arbeitswelt die beste Lebensversicherung ist. (Hartmut Volk, DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.10.2010)