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Ein chronisch gestörter Rhythmus zeigt sich häufig in gesundheitlichen Beschwerden.

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Autochrone Bilder von zwei Schülern vor (links) und in der Pubertät: Gezeigt ist jeweils die Herzrhythmen binnen rund 24 Stunden. Während der 11-jährige Schüler normale Tagesrhythmik und tiefe Erholung sowie eine schön ausgeprägte Schlafarchitektur zeigt, ist beim Schüler in der Pubertät die Rhythmik stark durch Fernsehen und Computerspielen während der Nacht gestört.

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Ao. Univ. Prov. Dr. MAXIMILIAN MOSER (54) ist Gründer und Leiter des Human Research Instituts für Gesundheitstechnologie und Präventionsforschung in Weiz und Professor für Physiologie an der Medizinischen Universität Graz.

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Arbeiten bis spät in die Nacht, Reizüberflutung, ständiger Stress, das Überspringen von Zeitzonen und chronischer Schlafmangel: Der menschliche Rhythmus gerät in der modernen Arbeitswelt immer häufiger aus dem Takt. Die Chronobiologie beschäftigt sich mit den Rhythmen von Lebewesen, die Chronomedizin damit, wie sich Störungen der Rhythmik auf unsere Gesundheit auswirken. "Dauernde Störung der biologischen Rhythmen kann zu Erkrankungen führen - von Burnout bis Krebs", betont Maximilian Moser, Chronomediziner und Professor für Physiologie an der Medizinischen Universität Graz, im Gespräch mit derStandard.at. Studien zeigen, dass Berufsgruppen wie Schichtarbeiter oder Flugpersonal, deren Schlaf-Wach-Zyklus gestört ist, ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko aufweisen.

Der biologische Rhythmus spielt aber nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei Behandlung von Krankheiten eine Rolle. Die Chronopharmakologie beschäftigt sich damit, wie Medikamente zu unterschiedlichen Tageszeiten auf den Körper wirken. "Dieser Forschungszweig birgt die Chance gewünschte Wirkungen zu maximieren und Nebenwirkungen auf ein Minimum zu reduzieren", erklärt Moser. Warum die Chronomedizin in der Praxis dennoch bisher nur wenig Beachtung findet und welche Vorzüge das Leben im Rhythmus bietet, erläutert der Chronomediziner im derStandard.at-Interview.

derStandard.at: In einem Fachartikel* schrieben Sie: "Rhythmus spart Kraft und diese Ersparnis kommt der Erholung zugute." Inwieweit beeinflusst das Leben im Rhythmus die Gesundheit?

Moser: Der menschliche Organismus besteht aus verschiedenen Organen und Organsystemen, die in vielfältiger Weise zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit kann nur dann gut gelingen, wenn ein Teil weiß, was der andere gerade macht - und das wird durch den Rhythmus abgestimmt. Ein System stellt sich auf das andere ein, wie in einem guten Orchester die Musiker aufeinander, und dieses Zusammenspiel ermöglicht letztlich Gesundheit.

derStandard.at: Welche Auswirkungen kann ein Leben in einem gestörten Rhythmus haben?

Moser: Es kann kurzfristig zu Befindlichkeitsstörungen kommen, langfristig zu funktionellen Störungen und später zu organischen Erkrankungen. Brustkrebs ist in der industrialisierten westlichen Gesellschaft, die in ihrer Lebensweise sehr rhythmusstörend lebt, stark zunehmend. Menschen mit Krebserkrankungen zeigen gestörte biologische Rhythmen und umgekehrt haben zahlreiche neue Studien ergeben, dass Störungen der Rhythmen, wenn sie chronisch erfolgen, zu Krebserkrankungen führen können.

So steigt etwa bei rotierenden Nachtschichten, die sich besonders störend auf die inneren Rhythmen auswirken, die Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs zu erkranken, nach 20 Berufsjahren um 50 Prozent. 2007 hat die "International Agency for Research on Cancer", eine Teilorganisation der WHO, die rotierende Nacht- und Schichtarbeit als "wahrscheinlich kanzerogen" eingestuft. 2009 leistete die dänische Regierung erstmals Kompensationszahlungen an Frauen, die jahrelang in solchen Arbeitsmodellen gearbeitet haben und an Brustkrebs erkrankt sind.

derStandard.at: Auch andere Berufsgruppen leben in einem gestörten Rhythmus. Flugpersonal beispielsweise, das regelmäßig Zeitzonen überspringt.

Moser: Auch in diesem Bereich gibt es bereits mehrere Untersuchungen. Sie bestätigen, dass Brust- und Hautkrebs bei Flugbegleiterinnen und Piloten auffällig häufig auftreten. Dieses Phänomen wurde ursprünglich auf die ionisierende Höhenstrahlung zurückgeführt, eine isländische Studie hat jedoch gezeigt, dass der gestörte Schlaf-Wach-Zyklus bei dieser Berufsgruppe wesentlich beteiligt ist. Vor allem dann, wenn mehrere Zeitzonen übersprungen werden - wie bei Ost-West-Flügen - ist das Erkrankungsrisiko erhöht. Neben der Höhenstrahlung beeinflusst bei dieser Berufsgruppe vor allem die Störung der Zeitrhythmik den Organismus negativ - und diese Störfaktoren wirken dann meist multiplikativ.

derStandard.at: Aus dem biologischen Rhythmus zu kommen ist meist nicht schwer, aber wie schafft man es, wieder zurückzufinden?

Moser: Wir wissen heute, dass eine Vielzahl biologischer Rhythmen an der Aufrechterhaltung unserer Gesundheit beteiligt ist. Dieser "Zeitorganismus" des Menschen reagiert sehr stark auf Übung. Werden Dinge regelmäßig gemacht, dann gewöhnt sich der Organismus daran und synchronisiert verschiedene Bereiche; das ganze System stimmt sich dann aufeinander ab. Auf die Praxis bezogen kann die Übung im täglichen Leben darin bestehen, dass man regelmäßige Essenszeiten einhält, versucht sich an regelmäßige Schlafzeiten zu halten - etwa am Wochenende nicht einfach in den Tag hinein schläft, sondern höchstens ein bis zwei Stunden später aufsteht.

Die drei großen Zeitgeber im Organismus, die unsere Rhythmen synchronisieren, sind das Tageslicht, die Nahrungsaufnahme sowie unser soziales Umfeld. Zeitgeber sind äußere Einflüsse, die den Rhythmus eines Menschen prägen, die dafür sorgen, dass unsere Organe gemeinsam den Tag oder die Nacht beginnen, also synchronisiert werden.

derStandard.at: Was kann die innere Uhr aus dem Takt bringen? Was sind sogenannte Rhythmusräuber?

Moser: Eine unrhythmische Lebensweise verringert das Ausschwingen unserer Rhythmen und stört die inneren Uhren: Andauernder Stress, zu wenig und schlechter Schlaf, keine Ruhephasen oder Arbeiten am Wochenende. Schwerwiegender sind dann schon häufiges Überspringen mehrerer Zeitzonen, und Schichtarbeit. Vor allem die rotierende Nachtschicht, auch als "Drei-Schicht-Modell" bekannt, ist ein typisches Beispiel für eine chronische Rhythmusstörung und aus chronobiologischer Sicht das schlechteste Modell.

derStandard.at:  Die innere Uhr tickt nicht bei allen Menschen gleich: Bekanntlich gibt es "Morgenmenschen" und jene, die das absolut nicht sind. Differenziert die Chronobiologie in unterschiedliche Typen?

Moser: Ja, das war eines der ersten Erkenntnisse dieses Forschungsfeldes in den 1960er Jahren. Versuche zeigten, dass Morgen- und Abendtypen ganz unterschiedliche Zeiten maximaler Leistung hatten. Rund zwei Drittel der Bevölkerung ist im Indifferenzbereich angesiedelt, das restliche Drittel verteilt sich auf den Morgen- oder Abendtypus. Morgenmenschen haben ihr Leistungsmaximum in der Früh, Abendtypen können in die Nacht hinein arbeiten und haben dort ihr Maximum. Der jeweilige Typus sollte auch bei der Tagesablaufgestaltung berücksichtigt werden: Die Gestaltung des Tages nach dem eigenen Chronotypus ist auf jeden Fall günstiger, als etwa Abendmenschen zu zwingen, um sieben Uhr aufzustehen. Ehepartner sollten hier viel Toleranz aufbringen, da Chronotypen sich nicht leicht umstellen können.

Auch an den Schulen sollten diese Erkenntnisse berücksichtigt werden. Der kindliche und jugendliche Organismus leidet in der Regel stärker als jener von Erwachsenen unter dem frühen Unterrichtsbeginn. Besser wäre es, den Unterricht eine Stunde nach hinten zu verschieben, insbesondere in der Sommerzeit . In Österreich gibt es Versuchsklassen, die das getestet haben - mit äußerst positiven Rückmeldungen.

derStandard.at: Welche Rolle spielt neben den verschiedenen Typen das Alter und Geschlecht in der Chronobiologie?

Moser: Jeder Mensch durchläuft im Laufe des Lebens einen Zyklus, der auch den Chronotyp verändert: Kinder sind Morgenmenschen, im Studentenalter erreicht man das Maximum des Abendtypus', ab etwa 50 Lebensjahren kommt wieder der Morgenmensch zum Tragen.

Frauen schwingen nicht so extrem aus wie Männer. Sie zeigen zwar eine ähnliche Verlaufkurve, haben aber diese extreme Abendtypik, die Männer im Studentenalter aufweisen, nicht. Damit tendieren Frauen eher zum mittleren Typus, vor allem in der Zeit der Adoleszenz, im Alter von 20 bis 30 Jahren, während Männer zu dieser Zeit oft extreme Abendtypen werden.

derStandard.at: Die Chronopharmakologie untersucht, wie Medikamente im Tagesverlauf auf den Körper wirken. Wie kann ein Wirkstoff zu unterschiedlichen Tageszeiten andere Effekte haben?

Moser: In jedem Organ und jeder Körperzelle finden im Laufe des Tages abwechselnd Abbau-, Aufbau- und Speicherungsprozesse statt. Je nachdem, in welchem Zustand das Arzneimittel auf die Körperzellen trifft, reagieren diese auf die zugeführten Substanzen ganz unterschiedlich. Das heißt etwa, am Abend und in der Nacht reagiert der Organismus ganz anders als am Morgen. Medikamente wirken in der Regel nicht direkt, sondern indirekt, indem sie Reaktionen im Organismus auslösen. Wenn nun der Organismus - je nach Zustand - anders reagiert, dann wirkt auch derselbe Stoff unterschiedlich. Durch die Uhrzeit der Einnahme kann so die Wirkung maximiert, die Nebenwirkung aber minimiert werden. Schmerzmittel wirken beispielsweise zu Mittag besser als um 3 Uhr morgens, die Einnahme von Blutdrucksenkern ist am Abend günstig.

derStandard.at: Inwieweit hält dieses Wissen in die Praxis Einzug? Ist eine Sensibilisierung hinsichtlich Chronobiologie bzw. -medizin festzustellen?

Moser: Einige wenige Kliniken berücksichtigen die chronopharmakologischen Erkenntnisse in der Krebs- bzw. Chemotherapie, die meisten aus Gründen der Klinikroutine und falsch verstandener Kostenökonomie nicht. Leider erfahren auch derzeit noch die meisten Ärzte im Verlauf ihres Studiums nichts von der Chronomedizin, daher fließt noch wenig in die medizinische Praxis ein. Vor allem von informierten Patienten werden chronomedizinische Maßnahmen zunehmend eingefordert. Ich nehme an, dass das Interesse hinsichtlich dieses Gebietes seitens der Ärzte zunehmen wird - in Graz gibt es bereits eine Lehrveranstaltung zur Chronobiologie und Chronomedizin am Physiologischen Institut.

In Bezug auf die Nachtarbeit, hat man zwar hronobiologisch günstige Arbeitsmodelle erforscht, in der Praxis sind diese jedoch gar nicht verbreitet, obwohl sie wesentlich besser als die Drei-Schicht-Modelle wären. Wie beim Rauchen wird man hier wohl erst durch Schaden klug.

derStandard.at: Kann das Wissen aus der Chronopharmakologie auch vorbeugend zu Nutze gemacht werden?

Moser: Wir wissen über das Immunsystem, dass seine Funktion stark von der Tageszeit abhängig ist. Die größte Wirkung wird in der Nacht entfaltet, weshalb ausreichend Schlaf und insbesondere die erste Kernschlafzeit für die Immunabwehr wichtig ist.

derStandard.at: Viele wissen nicht, was gut für sie selbst wäre und kennen den eigenen Rhythmus nicht gut. Gibt es Möglichkeiten, die innere Uhr besser kennenzulernen?

Moser: Wir haben dazu ein Verfahren entwickelt, das wir Autochrones Bild (nach der „Eigenzeit" des Menschen) nennen. Durch ein kleines aber sehr genaues Messgerät, das rund um die Uhr getragen wird, können Rhythmusbilder von Menschen angefertigt werden. Wenn Patienten oder Versuchspersonen zu uns kommen, zeichnen wir so ein Rhythmusbild auf und können damit Rhythmusstörer identifizieren, die den Versuchspersonen meist nicht bewusst sind. Diese Bilder motivieren Menschen, ihre Rhythmen umzustellen und zu beobachten, wie sich der ganze Tagesablauf neu ordnet. Die Schlafqualität nimmt dann zu, die Menschen werden entspannter und konzentrierter und können sich in kürzerer Zeit erholen. Therapeutische Maßnahmen können individuell abgesprochen und das „Lebensinstrument" wieder neu gestimmt werden.

derStandard.at: Das wäre auch für Burnout-Patienten nicht uninteressant, da Burnout oft als Folge eines gestörten Lebensrhythmus entsteht.

Moser: Wir sind mit einigen Kliniken in Kontakt, die Burnout-Patienten behandeln und haben immer wieder Anfragen auf diesem Gebiet. Dieses Feld ist ein bedeutendes Hoffnungsgebiet der Chronomedizin, wenn sonst nicht mehr geholfen werden kann.

Gemeinsam mit einer Klinik in Kärnten wird derzeit eine spezielle Rhythmus-Therapie entwickelt, die das rhythmisch gestörte System im Organismus - wie es zum Beispiel beim Burnout zu beobachten ist - in kurzer Zeit wieder in den richtigen Rhythmus bringt. Dafür werden gezielt Rhythmusgeber eingesetzt, die den Rhythmusräubern den Boden entziehen. Dies funktioniert über sogenannte „Chronamine": geeignete Ernährung, Kunsttherapie und Gestaltung des Tagesablaufes können ein gesundes Leben wiederherstellen. Ziel ist, den Organismus wieder zum Klingen zu bringen. Es hat sich gezeigt, dass unsere Organe durch die biologischen Rhythmen aufeinander abgestimmt werden. Der Organismus beginnt sich dadurch wieder „zu spüren", er wird neu geeicht. Fehlende Rhythmik führt zu Fehlabstimmungen, ein zu leises Musikinstrument kann nicht gut gestimmt werden.

derStandard.at: Wie schnell passiert es, dass unsere Organsysteme gegeneinander arbeiten? Wie anpassungsfähig ist unser Organismus?

Moser: In der Chronobiologie gilt eine tröstliche Regel: "Einmal ist keinmal." Eine durchgearbeitete oder -gefeierte Nacht verursacht keine schwerwiegende Störung, man verkraftet das relativ gut. Schläft man aber eine zweite Nacht nicht, oder nur wenig, ist der Organismus schon weniger damit einverstanden. Schlimm sind vor allem die chronischen und multiplen Störungen: Kurzfristige und vorübergehende Dinge können leichter kompensiert werden, ist der Rhythmus jedoch langfristig gestört, wird seine Regulationsfähigkeit irgendwann zusammenbrechen. (Ursula Schersch, derStandard.at, 20.10.2010)