Vom Bett in den Rollstuhl, ans Gehgestell und wieder zurück: Dank Pflegerin Petra kann die 79-jährige Theresia Kapeller ihren Lebensabend zu Hause verbringen - doch viele SeniorInnen haben nicht dieses Glück. Passende Angebote sind rar und teuer.

Foto: DER STANDARD/Regine Hendrich

Drei Wurstbrote und ein Glas Milch, das gibt's heute zum Frühstück. Petra vermerkt die Ration im Protokoll und versperrt den Kühlschrank mit einem Vorhängeschloss. Das strenge Regime verhindert, dass der Vorrat für die Woche an einem Tag geplündert wird. "Aber nun", sagt die junge Frau in der blauen Kluft, "haben Sie schon so viel abgenommen, dass Sie modeln könnten - nicht wahr, Herr Schrammel?"

Gerhard Schrammel presst ein Lachen hervor. Dem 60-Jährigen, ein Bär von einem Mann, fällt das Sprechen schwer, seit ihn vor zwölf Jahren ein Schlaganfall erwischt hat. Herzflimmern, Diabetes, Atemnot sind dazugekommen, und so langsam ist dem ehemaligem Stadtgärtner das Leben entglitten. Schrammel, man kann es in der Wohnung riechen, drückt sich gern vor dem Waschen, beim Einseifen braucht er Hilfe. Mit sanftem Zwang bekämpfen seine Betreuerinnen die Lethargie. Lockmittel sind Zigaretten und Taschengeld.

Pflegerin Petra erledigt die Aufgaben, die der Heimhilfe verboten sind, nimmt Blut ab, checkt die Zuckerwerte. Während sie das Insulin für den Tag dosiert, trottet Schrammel rüber ins Wohnzimmer. Von der Decke baumelt eine Glühbirne, in der Ecke lehnt ein altes Bettgestell, am türlosen Kasten thront ein abgegriffener Stoffhase. "Alles hin", schnauft er und deutet zum Fenster: "Aufmachen und runterstürzen!"

Petra muss weiter. Den ganzen Tag tourt die 27-Jährige mit in ihrem Stadtspuckerl durch Ottakring und Hernals. Sie lernt blitzsaubere Alte-Damen-Wohnungen kennen und vollgemüllte Löcher, in denen es nach Urin stinkt. Wäscht wunde Füße, hilft bei der Intimpflege, schneidet von Pilzen befallene Zehennägel. Hört sich Geschichten über den Krieg, die Enkerln oder einfach nur den frisch verlegten Teppich an. Wenn sich ein Patient aus Stolz gegen Hilfe wehrt, sagt sie: "Dann lassen Sie sich einfach einmal verwöhnen!"

Niemandem auf der Tasche

Petra Mikulickova ist keine jener Ausländerinnen, die in den Anklagen der Sarrazine und Straches vorkommen. Weder liegt sie dem Sozialstaat auf der Tasche, noch schnappt sie jemandem den Job weg. Vor sieben Jahren ist die Slowakin nach Österreich gezogen, um eine Arbeit zu machen, die sich wenige Einheimische antun. Im ganzen Land fehlt es an Altenpflegern, ohne Zuwanderer wäre viele Senioren aufgeschmissen. Im Dienst der Caritas verdient die diplomierte Krankenschwester bei einer 30-Stunden-Woche 1400 Euro netto im Monat. Zu Hause im Krankenhaus bekam Petra nur ein Fünftel.

Nächster Stopp Thaliastraße. Petra holt den Schlüssel aus der Code gesicherten Box neben der Eingangstür, denn Hausherrin Theresia Kapeller sitzt im Rollstuhl. "Den Blödsinn hab ich mir angewöhnt", scherzt die 79-Jährige, als ihr die Pflegerin ins Bett hilft. Weil sich Frau Kapeller beim Schlucken schwertut, spritzt ihr Petra 300 Milliliter Wasser durch eine Bauchsonde, danach geht's ins Badezimmer zum Waschen. Zum Abschluss muss die Dame noch ans Gehgestell. "Reifenwechsel" nennt sie das ständige Hin und Her.

Drei Runden dreht die Pensionistin durch die 80-Quadratmeter-Wohnung, vorbei an Kristallvasen, Porzellanpferden und vielen Fotos von den Enkerln. An der silbrig schimmernden Tapete hängen Kerzenleuchter und Stickbilder, in einem Käfig turtelt ein Kanari mit zwei Attrappengeschwistern. Vor dreieinhalb Jahren war der Ehemann - die Einladungen für die Goldene Hochzeit waren schon gedruckt - gestorben, dann landete Theresia Kapeller mit der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs im Spital. Für eine Operation sei sie zu schwach, meinten die Ärzte und entließen die Pensionistin nach Wochen aus der Intensivstation. Nun lebt sie schon wieder seit zwei Jahren zu Hause.

Verloren hat Kapeller ihr Gehvermögen, gewonnen aber viel Motivation, meint Pflegerin Petra. Kein typischer Fall: Oft landen Fälle mit mehr als drei Pflegestunden am Tag rasch im Heim, weil das den Ländern, die mitzahlen, billiger kommt. Außerdem fehlen mobile BetreuerInnen, die kurzfristig verfügbar sind, und Tageszentren wie jenes, in dem Kapeller einmal die Woche strickt und Quiz spielt. Das Pflegegeld von 660 Euro reicht bei weitem nicht für das ganze Programm, aus der Pension zahlt sie 400 Euro dazu. Den Rest der Kosten von insgesamt 3.000 Euro im Monat übernimmt die Stadt.

Die Regierung verspricht hunderte Millionen, um das Angebot auszubauen - in zwei Wochen soll die Reform stehen (siehe Artikel links). Am Mangel mangelt es nicht. Erst unlängst stand Petra wieder bei einer Firma auf der Matte, um ein paar von dieses tollen Druckverbänden zu schnorren, die pro Packung 160 Euro kosten. Die Bandagen der Krankenkasse hingegen rutschen von geschwollenen Beinen, wie sie alte Menschen oft haben, leicht nach unten. Angestautes Wasser lässt die Haut dann aufplatzen.

Walter Adamek zuckt immer wieder zusammen, als Petra die offenen Wunden an seinen Beinen abtupft. Für 220 Euro im Monat hat der invalide Pensionist 15 Quadratmeter und ein Bett in einem Doppelzimmer im Rupert- Mayer-Haus, einem Obdachlosenheim der Caritas, gemietet - letzte Station von Petras Tagestour. Das eigene Grundstück habe ihm seine Heimatgemeinde abgepresst, klagt der 62-Jährige: "Und mein Sachwalter wartet nur drauf, dass ich unter der Erde lieg."

"Warum die Dinge so sind, wie sie sind"

"Aber geh, Herr Adamek, niemand will das", erwidert Petra und zurrt den Verband fest. Sie hört Patienten gerne zu, nicht nur, um Vertrauen zu gewinnen. All die Geschichten, sagt Petra, seien ein Grund, warum sie ihre Arbeit liebe: "Man lernt, warum die Dinge so sind, wie sie sind."

Vom Bett in den Rollstuhl, ans Gehgestell und wieder zurück: Dank Pflegerin Petra kann die 79-jährige Theresia Kapeller ihren Lebensabend zu Hause verbringen - doch viele SeniorInnen haben nicht dieses Glück. Passende Angebote sind rar und teuer. (Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe 16./17.10.2010)