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Nachdem sich Peter Handke (re.) und Claus Peymann bezüglich der Aufführung des Handke-Stücks "Immer noch Sturm" überworfen hatten, findet nun die Uraufführung kommendes Jahr in Salzburg statt.

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Peter Handke, "Immer noch Sturm".
€ 16,40 / 166 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2010

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Ist Handkes Immer noch Sturm - es wird im August 2011 in der Regie von Dimiter Gotscheff bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt werden - das große Gegenstück zu Bernhards dramatischem Österreich-Requiem? Ja, jedenfalls stellt es in allem den Widerspruch zur Dramaturgie von Bernhards Heldenplatz dar. Und trotzdem gehören beide Stücke zusammen, verbunden durch jene von weither kommende Wut, die einen in Österreich anfällt, wenn man sich vergegenwärtigt, was hier geschehen ist und wie die Täter und Mittäter von einst, gedeckt vom Kalten Krieg, wieder zu ihrer Macht kamen. Es müsste einem zu denken geben, dass in den bedeutendsten zeitgenössischen Theatertexten Österreichs, einer österreichischen Weltliteratur, die Exilierung im eigenen Land ein Grundthema ist.

In Handkes neuestem Stück geht es um eine slowenische Kleinhäuslerfamilie in Kärnten, die in der NS-Zeit, vom Sprachverbot und von der Aussiedlungspolitik bedroht, zum Widerstand findet, und die nach 1945, nach den schönen, kurzen Wochen der erkämpften und erlebten Freiheit, sich neuerlich verdrängt und ausgeschlossen sieht. Das Stück bringt den ungeheuren Vorgang der Nachkriegszeit auf die Bühne: die Unterbrechung und Eindämmung der gesamteuropäischen Bewegung der Résistance durch den Kalten Krieg, als "die Ritter der freien Welt" begannen, sich nach den kurzen schönen Tagen der Befreiung zu verbünden mit der "Brut der tausend Jahre".

So leidvoll die Geschichte ist, das neue Stück stellt einen großen Gesang auf das Leben dar, auf das Sich-wehren-Können, auf unsere Körper, die die Kälte und den Wind spüren und denen die Sonne guttut, die die Liebe und das gut zubereitete Essen brauchen, und es erinnert, in der anhaltenden Kriegszeit, an die Idee des Gartens in einer friedlichen Welt, die Heimat bedeuten könnte.

Die literarische Dramaturgie dieses schönsten Stücks, das Handke je geschrieben hat, nimmt seinen Ausgang in einem Brief.

Der Brief vom 13. Jänner 1963

Am 13. Jänner 1963 schreibt der zwanzigjährige Peter Handke, der in Graz Jus studiert, seiner Mutter nach Griffen, er habe von seinem Onkel Gregor geträumt. Im Traum, den er gleich nach dem Aufwachen für die Mutter notiert, gewissermaßen 'aus der Nacht gesprochen', sei er, als Gregor, im Krieg von seinem Feldlager aufgestanden und desertiert. Er wusste, dass er auf der Flucht seinen Bruder Hans treffen würde, "der mit ihm gehen sollte."

Beide Brüder der Mutter, Kärntner Slowenen, sind als zwangsrekrutierte Wehrmachtsoldaten im Hitlerkrieg gefallen. Diese Tragödie ist das Zentrum von Handkes Familienmythos, genauer: Der literarische Mythos sind die immer neuen, befreienden Varianten, indem der Autor, wie zuletzt wieder in Immer noch Sturm, diesen sinnlosen Tod nicht hinnimmt, die Desertion aus dem Kriegsgesetz will und das Ende der sprachlichen Diaspora in Kärnten verlangt - die Voraussetzung für die "Heimkehr" in ein freies, offenes Land.

Liest man den Brief des gerade Zwanzigjährigen aus dem Jahr 1963, weiß man, dass hier eines der größten Talente des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen hat, sein Träumen in Literatur zu verwandeln. Aus der bedrängten Sprachwelt und der Armut einer slowenischen Keuschlerfamilie im südlichen Kärnten stammend, wird die "Hühnerleiter" für den Schreibenden zur "Jakobsleiter". Die Mutter, eine Arbeiterfrau, die Adressatin des Briefs, bleibt die Portalfigur seiner Autorschaft, und nie wird ihn die Frage loslassen, von wo er, aus einer Geschichte von Habenichtsen und Unterdrückten stammend, sein Recht zu schreiben bezieht.

Das Recht auf Autorschaft

Immer noch Sturm macht uns bewusst, dass Autor werden, oder Autorin, über sich selbst verfügen können, verstehen lernen, wo man herkommt, wem man sich zuschreibt und wohin es mit einem hinaus will, dass diese Fragen der Autorschaft uns alle betreffen.

Ich habe noch nie eine so berührend komische Darstellung des Autors auf der Theaterbühne gelesen, und das in einem verzweifelten Familiendrama und radikalen politischen Stück. Das "Ich", der Autor als alter Mann, die träumende und denkende Hauptfigur, sieht sich als Kind, wie in Filmaufnahmen aus verschiedenen Jahren, heranwachsen. Der Bühnenraum der geträumten Familienaufstellung ist eine leicht abschüssige "Heidesteppe" im Kärntner Jaunfeld, aber sie könnte überall und nirgendwo liegen.

Die Zeitschichten, in denen die Familientruppe in Erscheinung tritt, sind vor allem die Jahre 1936, 1942, 1943, 1945, und dann die späten Fünfzigerjahre. Aber im Stück spaltet sich nicht das Ich auf, sondern auch die Zeit öffnet sich in viele Möglichkeiten der Zeiterfahrung, in die Naturzeit, den Wechsel der Jahreszeiten, die Zeiten des Kirchenjahres, die "Realzeit, die historische, beschissene" ...

Auf der "Zeitreise" durch seine Kindheit sieht der alte Autor den Bauch der "blutjungen Mutter": "Schau, da in meinem Bauch: du!", sagt sie. Er sieht sich als reichsdeutscher "Bastard", Kind eines deutschen Wehrmachtssoldaten, in der verfolgten slowenischen Familie.

Er sieht sich, im Wurzelnest eines kleinen Apfelbaums, dem Mittelpunkt der Bühne, "wie schlafend", eine andere Wurzel Jesse. Und er - "Ich" - sieht dann am Schluss des Stücks, in dem Moment, als er erwacht, "das Recht in seine Hand nimmt" und nicht länger Träumer sein will, hinter der Mutter einen jungen Mann hervortreten, von dem sie, die im Stück fast immer zum Spielen Aufgelegte, mit dem ältesten biblischen Wort der Autorschaft sagt: "Du bist es." Es wird gerangelt, wer stärker ist - "ich oder ich?" -, und er - "Ich" -, wird "zuguterletzt von mir am Schopf gepackt und herumgewirbelt" und muss den Weg freimachen für den Jugendlichen, der er auch immer sein wird.

Das Stück hat seinen durchgängigen dramatischen Konflikt in der Entscheidung zum Widerstand, der der religiös verankerten Familie schwer ankommt, aber es lebt genauso aus den vielen Widersprüchen, die in allem Lebendigen stecken. Handkes Theatersprache funkelt von Widersprüchen, ob es die Geschichte der Äpfel und des Gartens in einer Welt des Kriegs ist, oder der Wind auf der Bühne, der eine reiche Skala von Möglichkeiten zeigt, vom belebenden Aufwind bis zum verheerenden Sturm, Immer noch Sturm - vielleicht das Zitat einer Regieanweisung aus Shakespeares Lear, aber man denkt auch an Soyfers Sturmzeit oder Benjamins Bild von der Geschichte als "Ausnahmezustand".

Aber vor allem liegt die Kraft des Theaterstücks in der Sprache, im "Tonfall", in der Art und Weise, wie die Menschen sprechen, streiten, sich freuen oder trauern - und wie sie sich empören, auch, wie sie gehen, dazusitzen oder niederstürzen. Durch das immer neue "Innehalten", eine dem epischen Theater verwandte Form der 'Unterbrechung", wird Nachdenklichkeit erzeugt. Die "Zeitreise" erhält dadurch ihre Rhythmisierung und Gliederung, genauso wie das bewusste "Spielen", "Nachspielen" und" "Vorspielen" von Sprache und Sprechen und der "Tonfall" das Staunen darüber bewirken, "was man durch Reden nicht alles entdecken kann".

Das Sprechen geht in diesem Stück immer wieder in Rhythmus und Gesang über, einzeln und im Chor, nicht freilich in die Musik der Festspiele, sondern in die der kleinen Leute, "We shall gather at the river", das John Ford in seinen Filmen verwendete, und die paarweise auftretenden slowenischen und deutschen Worte werden zur Utopie eines schönen Mit- und Nebeneinanders, zu Echo und Nachhall, zur Idee des Worts, das sich schöner ausspricht "in beiden Sprachen" (Ingeborg Bachmann).

Einander zuwinken

Im fünften und letzten Teil des Stücks sehen wir "Ich", den Autor, "allein auf der Bank inmitten des Jaunfelds". Er hat Bücher mitgebracht, liest, unterstreicht und notiert. Gregor, der überlebende Widerstandskämpfer, deutet dann mit einem "Ach" auf diese Bücher hin, auf "all die Geschichten zu unserem Lebens- und Überlebenskampf, von unserem Sprachkampf", auf "all die Geschichten, die jeden angehen - von wem gelesen? Ach, die Bücher alle [...], von uns Kleinen Leuten auf Großem Weg. Ach, Karel Prusnik, ach, Lipej Kolenik, ach, Tole Jelen, ach, Anton Haderlap, ach, Helena Kuchar-Jelka ...".

Hoffentlich werden diese Namen auf der Bühne der Salzburger Festspiele genannt werden. Man möchte so viele andere in diese Reihe aufnehmen, besonders das vor kurzem erschienene Buch der Namen über die Kärntner Opfer des Nationalsozialismus, oder die Namen anderer österreichischer Autorinnen und Autoren, der toten und lebenden, die in ihren Werken den Widerstand weitergeben. Sie erinnern daran, dass der militärische Kampf der Partisanen in Kärnten von uns zusammen gedacht werden will mit - das manchmal sogar gegen Handkes Text - den vielen Formen und Stimmen des Widerstands in Österreich, und nicht nur in Österreich. Vielleicht ist der "Abgesang" von Immer noch Sturm dafür ein schönes Bild, wo das "Ich" von den Indianern in Alaska erzählt, die durch gemeinsame Zeichen verbunden bleiben und "einander von ferne" zuwinken - "'He, ich bin noch da!' - 'Und ich auch!' - 'Und ich auch!'" (Hans Höller, ALBUM/DER STANDARD - Printausgabe, 16./17. Oktober 2010)