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Ferdinand von Schirach: "Die Wirklichkeit ist immer sehr kompliziert. Und: Wir können sie nie erfassen."

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Wirtschaftsstraftäter sind alle immer so unschuldig, sagt Anwalt Ferdinand von Schirach. Was Gedichte und Prozesse gemein haben und wovor die Langsamkeit der Justiz bewahrt (Urteil per SMS), erfragte Renate Graber.

Standard: Würden Sie gern Ruth Becker verteidigen, über die gerade wegen des RAF-Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 zu Gericht gesessen wird? Sie sind als Strafverteidiger auf Kapitalverbrechen spezialisiert.

Schirach: Das wird ein interessanter Prozess. Die Stammheimer Prozesse in den 70ern hatten viele Fehler. Damals dachte der noch junge Staat, er sei in Gefahr und müsse sich verteidigen – das ist aber nicht die klügste Voraussetzung für einen Strafprozess. Und diese Schwäche führte auch zu dem merkwürdigen Verhältnis, das viele heute noch zu der RAF haben. Die Verfahren scheinen mir mitverantwortlich für den seltsamen Mythos des deutschen Herbstes . Jetzt ist das ganz anders: Der Staat weiß, dass ihm nichts passiert, er ist gefestigt. Jetzt dürfte es wirklich nur noch um das gehen, worum es es bei Strafprozessen gehen sollte: die Wahrheit.

Standard: Genau darum geht es Bubacks Sohn. Er sagt: "Wir wollen endlich die Wahrheit wissen." Findet man in Prozessen Wahrheit?

Schirach: In einem Strafprozess haben wir am Ende der Beweisaufnhame eine Theorie dessen, was geschehen ist. Es ist aber nur eine Theorie, es ist nicht die Wahrheit selbst, nicht die Wirklichkeit. Jede Theorie ist falsifizierbar, wir können sie unter Umständen widerlegen: Jeder gute Richter weiß das. Wir können also der Wahrheit nahekommen, mehr aber auch nicht. Und das Gesetz ist immer noch das Beste, das wir haben. Ich möchte keinen Volksentscheid über die Schuld eines Menschen – das wäre aber die Alternative zu unseren Gerichtsverfahren.

Standard: Die Theorie von der Wahrheit ist Ihnen genug?

Schirach: Es kann ja nicht mehr geben. Wir müssen ein Mittel haben, um Zeugen, objektive Beweise zu werten. Dieses Mittel ist das strenge Beweisrecht. Die Strafprozessordnung ist der Filter, durch den alle Beweise müssen. Ich finde es befriedigend, wie wir durch Formalisierung Wahrheit erreichen. Es ist wie bei einem Gedicht: Etwas stärker Formalisiertes gibt es nicht in der Literatur. Ein gutes Haiku (japanisches Kurzgedicht; Anm.) ist ganz und gar wahr. Literatur ist auch Formalisierung, gefilterte Wirklichkeit. Würde Literatur vollständig die Wirklichkeit abbilden, wäre sie völlig uninteressant. Formalisierungen sind ein Weg, Dinge begreiflich zu machen, ein Weg zur Wahrheit.

Standard: Als Verteidiger interessiert Sie die Wahrheit nicht, Sie wollen nicht wissen, ob Ihr Mandant die Tat beging. Das schränke die Verteidigung ein. Nicht neugierig?

Schirach: Natürlich habe ich wie jeder Gefühl dafür, ob etwas stimmt oder nicht – aber das spielt im Prozess keine Rolle. Da geht es nur darum, ob etwas bewiesen wird. Das ist ganz etwas anderes als die Wahrheit.

Standard: Sie sagen, die Wirklichkeit sei dreckig und kompliziert. Oft ist doch alles ganz einfach, oder?

Schirach: Die Wirklichkeit ist immer sehr kompliziert. Und: Wir können sie nie erfassen. In Strafprozessen nicht, weil wir bei der Tat nicht dabei waren und durch unser Beweisrecht nur eine Idee von der Wirklichkeit erlangen können. Und auch im normalen Leben können wir, wie ich glaube, die Wirklichkeit nie ganz erfassen. Sie ist zu vielschichtig, wir kennen immer nur einen Teil.

Standard: Wollten Sie nicht eigentlich Kunst studieren?

Schirach: Ja, ich hätte gerne Kunstgeschichte studiert...

Standard:
... aber Sie hatten Angst vor der Brotlosigkeit.

Schirach: Ja, die hatte ich als junger Mensch.

Standard: Sie befürchteten ernsthaft, Sie könnten sich von Ihrem Beruf dann nicht ernähren?

Schirach: Genau.

Standard: Jetzt können Sie sich wohl gut ernähren.Sie sind ein sehr gefragter Verteidiger geworden.

Schirach: Ich kann meine Brötchen bezahlen.

Standard: Sie vertreten aber nur zehn, fünfzehn Mandanten pro Jahr. Das reicht Ihnen zum Leben?

Schirach: Ich habe ja keine Yacht und fahre keine Autorennen. Ich übernehme nur wenige Mandate, weil ich nichts vom Massengeschäft halte. Das ist dann natürlich für den Mandanten teuerer.

Standard: Sie haben gerade Ihr zweites Buch veröffentlicht: Kurzgeschichten, in die Sie Extrakte Ihrer Fälle mixen. Psychohygiene?

Schirach: Um Himmelswillen nein, Schreiben ist für mich keine Therapie...

Standard: Von Therapie halten Sie ja wenig. Warum eigentlich?

Schirach: Es gibt schon Fälle, in denen Psychotherapie hilfreich ist, bei Traumatisierungen nach Unfällen etwa. Aber sonst? Der Mensch verdrängt schlimme Erlebnisse, es ist seine Natur und das funktioniert gut. Psychotherapie will Verdrängtes sichtbar machen – ich glaube, dass der Einzelne nicht alles aufarbeiten kann. Wir können historische Vorgänge untersuchen, zum Beispiel feststellen, woran es liegt, dass im Dritten Reich so viele Menschen schuldig geworden sind, kollektives Verdrängen kann man so durchbrechen. Aber ich bezweifle, ob das beim Einzelnen gelingt.

Standard: Sie behaupten: "Man schreibt so, wie man ist." Sie selbst schreiben klar, kurz, prägnant. Ihre Geschichten lesen sich wie das Gegenteil von juristischen Schriftsätzen...

Schirach: Ja, Juristen schreiben anders.

Standard: Und wie sind Sie?

Schirach: Ich versuche, die Dinge klar zu sagen.

Standard: Kommt das immer gut?

Schirach: Es interessiert mich nicht wirklich, wie das ankommt. Ich bin so unabhängig, dass ich sagen kann, was ich für richtig halte. Das ist ein Privileg. Wenn man sich zu sehr dafür interessiert, wie man auf andere wirkt, handelt man am Ende wie Frau Merkel: Man versucht, allen nach dem Mund zu reden und verliert dabei sich selbst.

Standard: In Österreich brechen immer mehr Wirtschaftscausen auf. Mir erklärte jüngst ein Verteidiger, ihm sei "jeder anständige Einbrecher lieber als ein Wirtschaftskrimineller". Ihnen auch?

Schirach: Ich sehe es ähnlich. Das Mühsame bei Wirtschaftsstraftaten ist, dass alle immer so unschuldig sind.

Standard: Für Bluttaten finden sich Schuldige?

Schirach: Ja, da ist es aber auch schwieriger, unschuldig zu scheinen: Denken Sie an einen Mann mit Messer, der neben einer Leiche gefunden wird. Wenn Sie aber einen Bankvorstand verteidigen, ist der meistens sehr unschuldig. Mich interessieren auch die Geschichten nicht, ich finde Betrügereien nicht spannend. Und das Motiv ist so einfach und uninteressant. Es geht immer um Geld und Macht.

Standard: Kostet weniger Leben.

Schirach: Das stimmt, ist aber nicht entscheidend. Ich verteidige nicht die Tat, sondern den Menschen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihren Mann umgebracht, säßen in einer Zelle: Da sind Sie ganz allein, nackt, auf sich zurückgeworfen. Einen Menschen in dieser Situation kennen zu lernen, ist fast immer interessanter als zu prüfen, ob einer gegen den anderen einen Anspruch hat. Es ist elementarer, menschlicher, es ist das Leben. Und Liebe ist immer ein viel spannenderes Motiv als Gier.

Standard: Sie hätten gern Sokrates verteidigt und ihm zum Schweigen geraten. Wäre er so cvc v. Christus mit dem Leben davon gekommen?

Schirach: Die Vorwürfe gegen ihn waren ziemlich lächerlich: Gottlosigkeit und Verderben der Jugend – beides hätte er leicht widerlegen können. Der Schuldnachweis wurde nicht vom Kläger erbracht, sondern durch Sokrates‘ eigene Aussage. Mit Anwalt wäre das nicht geschehen.

Standard: So ist mehr überliefert von ihm: seine Reden vor Gericht. "Latein ist was für feine Leute", sagte Ihr Professor gern.

Schirach: Ja. Er war Soldat im Krieg gewesen und wurde erst danach Jesuit. Er war uralt, hatte alles gesehen. Er glaubte, Bildung wäre eine Möglichkeit, sich vor dem Schrecken der Welt zu schützen. Ich glaube das heute nicht mehr, aber damals leuchtete mir das ein.

Standard: Sie litten damals an Synthäsie, sahen Buchstaben als Farben. Ähnliches kommt in Ihrem Buch vor.

Schirach: Geht heute noch, wenn ich mir Buchstaben vorstelle.

Standard: "B" ist...

Schirach: Das "B" ist braun, das "H"ist gelb , "A" ist blau, und so fort.

Standard: Könnte bunt gewesen sein auf der Frankfurter Buchmesse, wo Sie gerade waren...

Schirach: (lacht) Richtig.

Standard: Am Gericht schätzen Sie das Altmodische. Die Formalismen, die strengen Regeln?

Schirach: Ich mag das Gericht, weil es ernsthaft ist. Es ist das Gegenteil einer Fernseh-Show. Das Langsame bei Gericht, die alten Formen, die Tatsache, dass eine Unternehmensberatung nichts am Gericht zu suchen hat und viele Dinge viel zu lange dauern, haben den Vorteil, dass die Ernsthaftigkeit nicht schwindet.

Standard: Österreichs Justiz steht wegen Langwierigkeit ihrer Verfahren im Kreuzfeuer der Kritik.

Schirach: Es ist wie mit Briefschreiben. Früher mussten wir uns setzen, einen Briefbogen holen, die Feder füllen, nachdenken, wie der Satz enden wird, den wir gerade beginnen. Dann kamen Computer, Mail und SMS. Bei Gericht schützen uns die alte Formen, das Langwierige, das Komplizierte davor, dass wir am Schluss Urteile per SMS absetzen: "Schuldig". Oder ein Smiley – für "unschuldig".

Standard: Ich finde keinen Anwalt, der sagt, bei Gericht gehe es um Gerechtigkeit. Sagen Sie's?

Schirach: Was ist Gerechtigkeit? Wenn man darunter den langfristigen Ausgleich von Interessen in einer Gesellschaft versteht, dann stellt die Rechtssprechung Gerechtigkeit her. Aber die Leute wollen Gerechtigkeit in jedem Einzelfall; das ist ein hohes Ziel, nicht immer zu erreichen.

Standard: Wie gerecht empfinden es verurteilte Mandanten?

Schirach: Ich hoffe, dass die meisten zufrieden sind.

Standard: Und Sie?

Schirach: Wir haben keinen Krieg, keinen Hunger, wir frieren nicht, wir sind freier als wir es jemals waren. Aber wir glauben, das sei selbstverständlich. Dabei ist es ganz außergewöhnlich. Wir beschweren uns zwar jeden Tag über fünf Millionen Dinge, aber worüber regen wir uns denn auf? Meist über nichts Entscheidendes.

Standard: Sie würdigen das alles? Denken beim Aufwachen zen-buddhistisch: "Du bist tot"?

Schirach: Ich tue das manchmal. Es hilft, damit zurecht zu kommen, dass man einmal tot sein wird. Man lebt so bewusster.

Standard: Hilft aber wahrscheinlich auch nicht beim Sterben.

Schirach: Was hilft schon beim Sterben?

Standard: Sie glauben ja, am Ende komme es nur darauf an, dass man anständig gelebt hat. Wie lebt man anständig?

Schirach: Das wissen wir doch alle, seit wir Kinder sind. Es ist keine große Philosophie: Man sollte niemandem schaden.

Standard: Sie halten sich weder für einen Optimisten noch für einen Pessimisten, und begründen das damit, dass Sie "nichts erwarten". Klingt ein wenig fatalistisch.

Schirach: Der Optimist urteilt, und der Pessimist urteilt, beides scheint mir Unsinn zu sein. Dinge geschehen, egal, wie man dazu steht. Ich schau mir an, was passiert. Man muss sich davor hüten, alles dauernd zu beurteilen; ist doch viel netter so.

Standard: So ein bisschen distanziert waren Sie immer schon, oder?

Schirach: Das hat auch mit meinem Beruf zu tun. Obwohl ich auch als Kind schon sehr distanziert war.

Standard: Sie nennen Ihre Distanziertheit nach Schopenhauer "verhaltenes Mittun". Warum halten Sie sich so gern heraus?

Schirach: Das ist ein Wesenszug, man kann ja nicht sein eigenes Wesen beurteilen.

Standard: Aber man kann darüber nachdenken.

Schirach: Ich denke nicht so gern über mich nach.

Standard: Warum nicht?

Schirach: Das ist langweilig, ich halte mich nicht für bedeutend. Ich denke lieber über andere Menschen nach, das interessiert mich mehr.

Standard: Das Böse ist letztlich banal, so Hannah Arendt nach Eichmanns Prozess. Ist es immer so?

Schirach: Alles, was wir benennen können, wird letztlich banal. Das Böse ist nur so lange das Böse, so lange wir es nicht benennen können. Das Böse ist das dämonisch Geheimnisvolle, das, was hinter dem Vorhang lauert, im Schrank, unter dem Bett oder am einsamen Heimweg, wenn man hinter sich Schritte hört. Kann man es sehen und benennen, ist es nicht mehr böse, vielleicht noch gemein oder brutal, aber es ist nicht mehr das Dunkle. Im Eichmann-Prozess wurde Adolf Eichmann beschrieben, so verlor er das Dämonenhafte, so wurde das Böse banal.

Standard: Ihr Großvater Baldur von Schirach war als Hitlers Reichsstatthalter in Wien für die Deportation der Wiener Juden zuständig. Er bekam in Nürnberg 20 Jahre Haft, starb 1974. Glauben Sie, dass er seine moralische Schuld am Ende einsah?

Schirach: Das weiß ich nicht. Ich habe ihn zum letzten Mal gesehen, als ich sechs Jahre war. So eine fürchterliche Schuld einzugestehen, ist schwer. Er hat sich zu seiner Schuld im Prozess und in seinen Memoiren zumindest teilweise bekannt. Aber heute wissen wir, dass er bei der Posener Rede (1943, Heinrich Himmlers Geheimrede über die Massenmorde an Juden; Anm.) dabei war. Das hatte er immer verschwiegen. Seine Schuld wiegt also viel schwerer als er eingestand.

Standard: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Schirach: Um nichts. (Renate Graber, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 16./17.10.2010)