Großbritannien als Baustelle: Patrick Keiller verbindet (Landschafts-)Aufnahmen aus Südengland mit komplexen Betrachtungen zu Gesellschaft, Geschichte, Politik und Ökonomie.

Foto: Viennale

Ein Weg, der einmal eine Römerstraße war, führt zu einem Gasometer. Von dort gelangt man zur neuesten Filiale einer international agierenden deutschen Supermarktkette, die wiederum neben den Resten einer Autofabrik zu finden ist. Bei der rollte einst der berühmte Mini vom Fließband. Der Supermarkt dagegen ist erst kürzlich in die Schlagzeilen geraten, weil er seine Mitarbeiter heimlich ausspionierte. Vor seinen Toren, mitten in der Strukturschwäche, steht ungerührt eine schwere Skulptur, die figural und im Titel ("Together") die menschliche Gemeinschaft beschwört.

Alles voller Bedeutung hier. Man muss gar nicht recht tief graben. Wir befinden uns im Süden Englands, und unser Führer verfolgt akribisch eine ganz besondere Spurensuche: Sein Interesse gilt einerseits Relikten und Stätten menschlicher Zivilisation wie den eingangs beschriebenen Bauten und Infrastrukturen.

Andererseits zeigt er uns blühende Landschaften, Bäche und Gestade, gelbgrüne Rapsfelder, zarte Flechten auf Wegweisern und Schildern. Dazu sinniert er über globale Vernetzungen, die meist an einem ganz konkreten, lokalen Punkt ihren Ausgang nehmen. So kann es passieren, dass die Betrachtung eines einfachen Straßenpfostens am Wegesrand mir nichts, dir nichts zu kanadischen Pensionskassen führt.

Der mysteriöse Einzelgänger "hatte einmal gesagt, er glaube daran, dass die Landschaft, wenn er sie nur genau genug betrachtete, die molekulare Basis historischer Ereignisse enthüllen würde". Nicht nur das erfährt man von einer Frauenstimme aus dem Off - Vanessa Redgraves Stimme nämlich -, während man die unbewegten Aufnahmen, weite Panoramen und einzelne Details daraus, sieht. Der eigentliche Akteur ist nur indirekt präsent, auch sonst sind im Bild kaum je Menschen zu sehen. Dafür erfährt man einiges über Werden und Zustand der von ihnen gemachten Welt.

Das Konzept von Patrick Keillers Film und sein Ausgangspunkt werden gleich zu Anfang, noch vor dem Titel, eingeführt. Zwei Schrifttafeln informieren knapp: "Während er einen herrenlosen Wohnwagen zerlegte, fand ein Recycling-Arbeiter vor einigen Jahren eine Schachtel mit 19 Filmdosen und einem Notizbuch. Forscher haben einen Teil dieses Materials nun zu einem Film verarbeitet, kommentiert von der Mitbegründerin ihres Instituts, und sie haben dem Film den Titel 'Robinson in Ruins' gegeben. Die Streifzüge, die darin beschrieben werden, beginnen am 22. Jänner 2008." In gewisser Weise liegen ihre Anfänge aber schon viel weiter zurück.

Frühere Robinsonaden

Patrick Keiller, 1950 an der britischen Küste in Blackpool geboren, studierte zunächst Architektur und Kunst. Anfang der 80er-Jahre begann er kurze Filme zu veröffentlichen. 1992 und 1997 - zu einer Zeit, als das unabhängige britische Kino noch gute Voraussetzungen vorfand, Derek Jarman, Peter Greenaway oder Isaac Julien reüssierten - folgten zwei bahnbrechende lange Arbeiten, die mit dem jüngsten Film in direkter Verbindung stehen und Keiller als eigenwilligen Chronisten britischer Gegenwart etablierten:

In "London" hat Robinson seinen ersten Auftritt (als Erzähler fungierte Paul Scofield, der 2008 gestorben ist). Durch ein Jahr hindurch gehen die bittere Bestandsaufnahme und die lustvolle, von Arthur Rimbaud, Horace Walpole, Lawrence Sterne und anderen angeleitete Umwidmung der Kapitale. "Robinson in Space" hingegen erweitert seinen Radius, begleitet den Titelhelden und seinen Freund auf sieben Reisen über die Insel, beauftragt, das "englische Problem" zu untersuchen. Die aktuelle Expedition findet nun vor dem Hintergrund der ausbrechenden Bankenkrise und Kreditklemme statt (und führt bis zu Aufständen im siebzehnten Jahrhundert).

Keiller nennt Chris Marker als wichtigen Einfluss. Bei der Betrachtung von "Robinson in Ruins" kommt man jedoch auch nicht umhin, an Gerhard Friedls "Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?" zu denken: Wie dort wird auch hier auf der Kommentarebene ein dichtes Netz aus Sozial-, Ökonomie- und Politikgeschichte(n) ausgelegt. Während Friedl sich einer Rhetorik bedient, die an chronikale Meldungen und Skandalberichte angelehnt ist, setzt Keiller auf trockenen Humor und literarische Science-Fiction.

Das British Film Institute hat "London" und "Robinson in Space" übrigens 2005 als DVD aufgelegt - eine kleine Empfehlung für die Zeit nach der Viennale. (Isabella Reicher/ DER STANDARD, Printausgabe, 15.10.2010)