Wien - Sebastian, der anonym bleiben möchte, wird am Sonntag nicht allein bei der Wahlkommission erscheinen. Er ist Betreuer einer achtköpfigen Wohngemeinschaft von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Er wird sieben von ihnen zur Wahl begleiten - und für einige das Kreuz setzen.

Denn seine "Schützlinge" können weder lesen noch schreiben, noch sind sie in der Lage, ihren Willen auszudrücken. Nach Sebastians Einschätzung können sie keine Unterscheidungen zwischen politischen Parteien treffen oder die Komplexität von politischen Prozessen erfassen. "Mit viel Hilfestellung könnten sie die Farbe Rot von Blau unterscheiden - aber eben nur als Farbe, nicht als politische Gesinnung", sagt er.

Kann eine Person aufgrund psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung ihre Geschäfte nicht für sich selbst besorgen, wird sie von einem Sachwalter vertreten. In Österreich betrifft das derzeit etwa 50. 000 Personen. Wenn der Gutachter Geschäftsunfähigkeit feststellt, bleibt der Betroffene im Wahlregister eingetragen, selbst bei schwerster intellektueller Beeinträchtigung. Wie wird in solchen Fällen das Wahlrecht vollzogen?

Robert Stein, stellvertretender Vorsitzender der Bundeswahlkommission, erklärt die Regelung: Wer nicht selbst unterschreiben kann, darf auch nicht per Brief wählen, sondern muss in Begleitung vor der Wahlkommission erscheinen. "Die bestätigt die Fähigkeit, das Wahlrecht mit Unterstützung der Hilfsperson wahrzunehmen." Und wenn sich jemand nicht verständlich ausdrücken kann? "Dann reicht ein Nicken oder Deuten. "

Vor zwei Jahren hat Sebastian schon einmal einen Klienten zur Wahl begleitet. Der wollte zuerst nicht in die Kabine gehen. Einmal dort, verstand er nicht, warum er ein Kreuz machen soll. "Irgendwann hat er es einfach ganz oben hingemalt", seufzt Sebastian. Er sieht es als seine Aufgabe, die Klienten zu unterstützen. Aber bei seinen aktuellen Fällen, wo er den Stift führen wird müssen, fühlt er sich nicht wohl. "Die machen alle das Kreuz dort, wo ich die Hand hinführe."

Der Verband der Sachwalter sieht den Vollzug des Wahlrechts in diesem und ähnlichen Fällen als "sehr heikel" an. "Das kann nicht im Sinne der Betroffenen sein", meint Albert Maresch. Wenn es keinen klaren Wunsch der Patienten gebe, solle das auch nicht forciert werden. Albert Brandstätter vom Verein Lebenshilfe plädiert dafür, Menschen mit starker geistiger Beeinträchtigung das politische System mit viel Geduld näherzubringen, sich aber auch einzugestehen, dass viele es nicht können. "Wir stehen ganz am Anfang bei der unterstützten Entscheidungsfindung." (Julia Herrnböck, DER STANDARD, Printausgabe, 9./10.10.2010)