Wien - Wer im Herbst 2010 über "Die Lage der Politik in Österreich" diskutieren soll oder muss, kommt fast zwangsläufig, zumal wenn er sie auch noch von innen kennt, an den Universitäten nicht vorbei. Und so war es Heinrich Neisser, emeritierter Professor am Institut für Politikwissenschaft der Uni Innsbruck, der Donnerstagabend bei einer von der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft veranstalteten und von Standard-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid moderierten Diskussion mit Verve scharfe Kritik an der Politik übte.

"Die Unis in Österreich sind in einer enormen Krise und ich bin pessimistisch über den Ausgang einer Entwicklung, die wir wahrscheinlich erst in voller Größe in fünf, sechs Jahren kapieren werden", sagte der frühere Zweite Nationalratspräsident. "Die Lage der Politik" sieht Neisser (ÖVP) eher schief gelagert, denn: "Die Unis brauchen Encouragment von der politischen Seite - und das haben sie derzeit überhaupt nicht." Im übrigen sei es ein "unglaubliches Armutszeugnis", dass die Regierungsspitze den Rektoren monatelang ein Gespräch verweigere.

Das empfand offenbar auch Neissers Nachbarin auf dem Podium, Salzburgs Landeshauptfrau Gabi Burgstaller (SPÖ), so inakzeptabel, dass sie sich laut Salzburger Nachrichten persönlich für eine "Anhörung" der Rektoren durch die Regierung stark gemacht hat und nicht nur mehr Geld fordert, sondern auch "eine Form der Steuerung der Studentenströme": Mit einem gerechten Stipendiensystem "kann man sich auch Studiengebühren überlegen".

Dazu aber müsste die "Maschine namens Politik", wie sie Politikwissenschafter Anton Pelinka, der den Festvortrag ("Die gelähmte Republik") gehalten hat, nannte, anspringen und produzieren, was eigentlich ihre Aufgabe wäre: Politik.

Leichter gesagt, als getan, meinte eine, die es wissen muss. Und wie sie das weiß, deutete Burgstaller an, die als einzige Frau "ja im erlauchten Kreis der Landeshauptleute-Konferenz" Platz nehmen darf: "Österreich ist schwer zu verändern." Da hilft nicht einmal eine große Finanz- und Wirtschaftskrise, um die "wirklich großen Reformen anzugehen".

Rettung durch die Mehrheit

Aber Krise hin oder her - die heimische Innenpolitik laboriert aus Sicht der SPÖ-Politikerin an einer anderen, selbstverschuldeten Dauerkrise: "Das Hauptproblem ist, dass in der Politik nicht der Wille da ist, etwas zu verändern." Zum Beispiel den Bundesrat abzuschaffen, oder Landes- und Bezirksschulräte zugunsten einer Stärkung der Schulen. Was noch fehlt, weil es sehr praktisch, nur leider ein höchst seltenes Gut geworden ist: die Mehrheit.

Burgstaller meint daher: "Es rettet uns nur mehr ein Mehrheitssystem." Etwa ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster, Motto: "The winner takes it all." Einstweilen aber "müssen SPÖ und ÖVP kapieren: Wenn sie nicht endlich dringende Reformen umsetzen, wird das der FPÖ nützen."

Was aber, wenn die Reform-unwilligen oder -ängstlichen Regierungsparteien schlicht das verinnerlicht haben, was der an der Central European University in Budapest lehrende Pelinka konstatiert hatte: "Die Republik ist defensiv geworden." Die Folge ist quasi eine Politik in der Manier von Konservenfabrikanten. Das seit der Nachkriegszeit geschaffene Österreich wird durch "politische Lähmung" in gewisser Weise strukturell konserviert. Pelinka: "Die Politik geht im Kreis, die Gesellschaft dreht sich aber weiter." Und die Welt erst recht. Da ist Stehenbleiben eher ungünstig.

Vor allem angesichts der "Entgrenzung der Ökonomie und der abnehmenden Gestaltungsmacht der Politik", wie Pelinka sagte. Dieser schleichenden machtpolitischen Enteignung der Politik durch die Wirtschaft kann nur durch eine Ausweitung der Kampfzone der Politik über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus begegnet werden. "Transnationale Politik" sei gefragt, das heißt zum Beispiel europäische.

Nach Brüssel reist Österreich jetzt ja schon seit 15 Jahren. Aber, sagte die Diplomatin Eva Nowotny: "Wir sind mental noch nicht wirklich angekommen in Europa." Dabei lägen dort die politischen Handlungsspielräume, die national verloren gegangen seien. Nur an der alten "Arbeitsteilung" ist noch zu arbeiten: Die Schuld für jedes Problem kriegt Brüssel, die Feder für jeden Erfolg kommt auf den Österreicher-Hut - das ist alte Politik aus der Konservenfabrik. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, Printausgabe, 2./3.10.2010)