Bild nicht mehr verfügbar.

Zu den AA kann jeder kommen - auch Angehörige, die mit dem Trinken ihrer Partner, Eltern oder Kinder nicht mehr zurande kommen.

Foto: APA/Klaus-Dietmar Gabbert

Heute erzählt der Mann mit Brille. Er hat schwarze Haare und ein fahles Gesicht. Dafür trägt er einen blütenweißen Pullover, und seine Stimme klingt sicher, wenn er erzählt - über sein Leben, stakkatoartig und im Zeitraffer: Mit 17 Jahren hat er angefangen zu trinken, weil es mit den Freunden so lustig war. Beim Ausgehen war er immer "blunzenfett". Wegen des wohligen Gefühls waren vier, fünf Bier bald an der Tagesordnung. Zuerst nur abends, dann immer früher, auch mittags. Dazwischen die Vollräusche am Wochenende. Eine Zeitlang ließ sich das Betrunkensein verstecken. Dann nicht mehr. Irgendwann kam das Zittern in der Früh. Das ging nach ein, zwei Bier wieder weg. Irgendwann nicht mehr. Nur mehr mit Schnaps. Es folgten erfolglose Entziehungskuren in Kalksburg und Ybbs. Studium, Freunde, Familie, alles ging den Bach runter. Was blieb, war der Weg zwischen Würstelstand und Bett. Später anspeiben, anscheißen. Spinnen auf dem Kopfpolster und weiße Mäuse durch die Wohnung huschen sehen.

Hier macht der Mann eine Pause. Hält inne, so als ob er sich an diese Zeit besonders intensiv erinnern will. Seine Wangen wirken durch die geplatzten Äderchen gerötet, in seinen Augen sammelt sich Flüssigkeit. Wie alt er ist, lässt sich schwer schätzen. 40, 50 oder 60? Der Mann, nennen wir ihn Werner, erinnert sich an den Tiefpunkt seines Lebens. Weil er damals aus irgendeinem Grund noch nicht sterben wollte, waren die Anonymen Alkoholiker (AA) seine letzte Option. Fünf Jahre hat er nicht mehr getrunken - seit er regelmäßig zu den AA geht.

Der Protagonist von Werners Geschichte ist nicht er selbst, sondern der Alkohol. Wie dieser es schafft, langsam von einem Menschen Besitz zu ergreifen, damit kennen sich Werners Zuhörer aus. Es sind 15 Menschen, die sich heute um den langen Tisch in einem Kellerlokal im dritten Bezirk versammelt haben. Wie jeden Tag findet in dieser Zweigstelle der Anonymen Alkoholiker ein Meeting statt. Kommen kann jeder, der will. Kostenlos. Auch Angehörige, die mit dem Suchtverhalten ihrer Partner, Eltern oder Kinder nicht mehr zurande kommen, sind in den offenen Gruppen willkommen. AA steht auf dem Klingelboard des schmucklosen Gemeindebaus nahe der U-Bahn-Station Schlachthausgasse. Eine Treppe führt ins Souterrain. Der Boden ist aus Kunststoff, kaltes Neonlicht, eine schmucklose Tischdecke aus Plastik. Gemütlich ist anders, dafür darf man rauchen. Es gibt Kaffee in Thermoskannen, und jemand hat eine Biskuitroulade mitgebracht.

Sätze, die hier jeder kennt

Ein junger Mann, rothaarig und gutgelaunt, hatte das Meeting um Punkt halb acht eröffnet. „Ich heiße Franz und bin Alkoholiker", hat er sich vorgestellt. „Wir sind hier zusammengekommen, weil es unser gemeinsamer Wunsch ist, mit dem Trinken aufzuhören." Auch Franz war einmal trinkender Alkoholiker. Hinter ihm an der Wand hängt eine Tafel mit den zwölf Schritten, die helfen sollen, von der Sucht loszukommen.

Das Meeting selbst folgt einem genau festgelegten Ablauf. Es gibt Sätze, die hier jeder kennt. Wer sich zu Wort meldet, nennt seinen Namen und sagt zum Beispiel: „Servas, ich bin die Monika, und ich bin Alkoholikerin". Die anderen antworten: „Servas, Monika". So haben es die Gründer der Anonymen Alkoholiker, Bill Wilson und einer, der sich Dr. Bob nennt, 1935 in Akron (Ohio) festgelegt. In über 100.000 Gruppen rund um den Erdball wird das bis heute so gemacht. Heuer feiert die erfolgreichste Selbsthilfegruppe der Welt ihr 75-jähriges Bestehen. Jede der 200 Gruppen in Österreich ist stolz, ohne finanzielle Unterstützung oder Förderung zu existieren. Das ist Teil der Statuten.

Und weil Alkohol eine trickreiche Substanz ist, folgen alle Geschichten zwar einem ähnlichen Muster, sind aber doch alle höchst unterschiedlich. „Den Alkoholiker gibt es nicht", sagt Michael Musalek, Leiter des Anton Proksch-Instituts in Kalksburg bei Wien. „Ein Viertel bis ein Drittel der österreichischen Bevölkerung trinkt zu viel Alkohol", sagt er, und die meisten Alkoholkranken kämen überhaupt erst nach fünf bis acht Jahren körperlicher Abhängigkeit zur Behandlung. Die Übergänge zwischen Vieltrinker und süchtigem Alkoholiker sind fließend, und die Grenze, die aus dem Trinken mit einem Schlag einen Zwang macht, passieren jene, die alkoholabhängig werden, meist unbemerkt.

Fast jeder hat sein alkoholisches Ritual. Ein, zwei Bier nach der Arbeit. Eine gute Flasche Rotwein zum Abendessen. Weiße Spritzer im Sommer. Ein Drink in der Bar mit Freunden. Für zwei bis drei Millionen Österreicher ist Trinken an der Tagesordnung, und alle haben gute Chancen, süchtig zu werden. Ein wirkungsvoller Selbsttest: „Sich vornehmen, nichts mehr zu trinken. Und dann bemerken, dass man diesen Vorsatz aus irgendwelchen Gründen nicht einhalten kann". Musalek weiß, dass es oft „ein Bruch in der Lebenslinie" ist, der aus Vieltrinkern Alkoholkranke macht. Durch Enttäuschungen, Jobverlust oder bei gescheiterten Beziehungen wird Alkohol zum Lebenströster. Oder, wie bei Michael, einfach das tolle Gefühl, das der Alkohol zeitigt, sich sicherer und besser zu fühlen.

Michael ist um die 50 und nicht besonders groß, hat fast weiße, kurz geschnittene Haare und einen kleinen Bauch. „Mit 15 habe ich mich in den Sommerferien das erste Mal betrunken. Ich wusste sofort: Das ist mein Stoff." 25 Jahre lang, erzählt er, habe er jeden Tag gesoffen, aber keinen Tag im Büro gefehlt oder Krankenstand in Anspruch genommen. Am Wochenende hat er sich dann mit viel Alk in seiner Wohnung eingebunkert, unter der Woche hat er trotzdem funktioniert. Dass er immer aufgedunsener wurde, dass sein Körper schmerzte, hat er ignoriert. Dass ihn seine Frau verlassen hat, hat er hingenommen. Hätte ihm jemand in diesen 25 Jahren gesagt, er habe ein Alkoholproblem, hätte er gelacht. Michael war zu jeder Zeit seiner Alkoholsucht überzeugt, dass er am nächsten Tag mit dem Trinken aufhören könne. Er wollte nur nicht. Selbst als er halluzinierte, dass weiße Mäuse im Abflussrohr seiner Toilette wohnen, blieb er ruhig. „Wenn du Alkoholiker bist, springen dich die Viecher aus der Wand an. Das war bei mir nicht der Fall." Eine Entziehungskur hat er nie gemacht.

Michaels Tiefpunkt war, als er nicht mehr ins Bett gehen konnte, weil die Angst, im Schlaf seine Zunge zu verschlucken, einfach zu groß war. Da ging er zu den Anonymen Alkoholikern. Das war im August 1995. Seitdem ist er trocken. Zwei- bis dreimal in der Woche kommt er zum Meeting, macht viele Dienste für die Gemeinschaft. „Wenn ich das nicht mache, kommt mein Hochmut zurück. Dann würde ich denken, ich brauch niemand mehr und würde wieder saufen."

Für die Alkoholkrankheit hat die WHO genaue Kriterien festgelegt: Konsumzwang, fortschreitender Kontrollverlust, Vernachlässigung früherer Interessen zugunsten des Trinkens, Leugnen des Suchtverhaltens, Entzugserscheinungen, zunehmende Toleranz gegenüber Alkohol sowie Persönlichkeitsveränderungen.
Zu Beginn sind die Symptome unspektakulär: Schwitzen, Unruhe, Zittern, sie verschwinden mit Alkohol auch wieder. Das ist bei 330.000 alkoholkranken Österreichern der Fall. Viele von ihnen verbringen ein paar Wochen in Kalksburg, um von ihrer Sucht loszukommen. Es liegt idyllisch am Rande von Wien. Ein großer Park mit alten Bäumen, Bänken und einem Teich. Dazwischen Menschen, die versuchen, nicht mehr zu trinken. Man sieht ihnen den Alkohol an: Aufgeschwemmte Gesichter, aschgraue Haut und eine angestrengte Röte, auch an den Händen. Ein Zeichen für Alkoholismus bei Männern: Ihre Arme und Beine sind glatt, ohne jedes Körperhaar, denn die Leber ist so geschädigt, dass dort schon zu viel weibliche Hormone produziert werden.

„Alkohol ist eine zerstörerische Substanz, die alle Organsysteme des Körpers schädigt", sagt Musalek. Auch das Zentralnervensystem, deshalb die Halluzinationen. Schuld ist der Methylalkohol. Bier enthält 8-10 mg/l, Weißwein 15-20 mg/l, Whiskey 20 mg/l, ein Obstler 3000 bis 6000 mg/l. Das Resultat: „Ich konnte irgendwann nicht mehr klar denken", sagt Franz. „Es gibt verschiedene Wege, vom Alkohol loszukommen", sagt Musalek, der das Rehabilitationszentrum für Alkoholkranke in Kalksburg seit vielen Jahren leitet. Beim Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker ist Abstinenz das oberste Ziel. In dem von ihm entwickelten Orpheus-Programm ist „Abstinenz nur ein Teilziel". Wer sich heute in Kalksburg behandeln lässt, soll nach dem körperlichen Entzug, der zwischen sieben und 14 Tagen dauert, lernen, sich wieder selbst zu spüren, achtsam zu sein und so zu einem Leben kommen, das den Alkohol nicht mehr braucht. „Abstinenz ist die Chance zu einer Transformation", sagt Musalek, der stationäre Aufenthalt sei lediglich ein Anfang, der ambulant weitergeht. Auch da gibt es Gruppen, Einzelsitzungen. „Wer einmal körperlich abhängig war, bei dem wird das Modell des moderaten Trinkens nie mehr funktionieren", daran lässt Musalek keine Zweifel.

Manfred, ein großer hagerer Mann, der in Trainingshose beim Meeting sitzt und früher einmal Handelsvertreter war, ist viele Male in Kalksburg gewesen. Stets führte ihn sein Weg nach der Entlassung schnurstracks zum nahe gelegenen Billa, wo er sich eine Flasche Scotch kaufte und austrank. „Ich weiß nicht, warum", sagt er. Auch er, „der Methusalem der Gruppe", wie er sich selbst nennt, hat sich heute im Meeting bei den Anonymen Alkoholikern zu Wort gemeldet: „Die meisten Alkoholiker haben ihren Tiefpunkt zwei Meter unter der Erde", sagt er. Unter den Alkoholkranken hätten die AAs einen schlechten Ruf: Besser ein stadtbekannter Trinker als ein Anonymer Alkoholiker, habe auch er sich 25 Jahre lang gedacht.
Woran das liegt, wissen jene, die seit Jahren hierherkommen, längst nicht mehr. Auch nicht der braungebrannte Typ im T-Shirt, mit Goldketterl und Tätowierung auf dem Arm. „Hallo, ich bin der Chris, und ich bin Alkoholiker". Er war bereits mit 17 das erste Mal in Kalksburg. Es freut ihn auch heute noch nicht, zu den AA-Meetings zu kommen, aber er habe keine Alternative, sagt er. Man hört ihm gerne zu, wenn er erzählt, wie „man sich fürchtet, seinen Ruf zu verlieren, plötzlich kein cooler Hund mehr zu sein, deshalb sauft man weiter". Die meisten seiner alten Freunde sind heute tot, bei den AA hat er neue gefunden. Sie ruft er an, wenn er eine Krise hat.

Reden, um sich gegenseitig zu unterstützen, das war die Idee des Gründers Bill Wilson, eines New Yorker Börsenmaklers, um den sich folgende Gründungssaga rankt: Bill, ein hoffnungsloser Säufer, schaffte es eines Tages, mit dem Trinken aufzuhören. Er blieb acht Monate lang trocken, hatte aber während einer Dienstreise nach Ohio plötzlich wieder das unstillbare Bedürfnis zu trinken. Bill hatte aber die Erfahrung gemacht, dass Alkoholiker mit anderen Alkoholikern gut reden können. In seiner Not suchte er einen - und fand Dr. Bob, einen alkoholsüchtigen Chirurgen. Er überstand die Nacht - ohne zu trinken. Der Grundstein für die Selbsthilfegruppe war gelegt. US-Soldaten brachten die Idee nach Europa. Bill und Dr. Bob blieben bis an ihr Lebensende trocken. Die Meetings wurden Teil ihres Lebens.

Versteckt und doch entdeckt

Das sind sie auch für Monika, die seit 13 Jahren bis zu dreimal in der Woche hierherkommt. Sie braucht die Treffen. Wenn sie in Amerika Verwandte besucht, schaut sie auch dort bei einer AA-Gruppe vorbei. „Erst seit ich Alkoholikerin bin, bin ich trocken", lacht die korpulente Frau um die 50. Sie zählt bis heute jeden alkoholfreien Tag. 4497 sind es, früher wusste sie sogar die Stunden. Jeden Tag aufs Neue, sagt sie, lässt sie das erste Glas stehen, „weil wenn dich ein Zug überfährt, killt dich auch der erste Wagon und nicht der dritte". Sie kennt die versteckten Alkoholquellen - die Marmelade in den Krapfen, die Hustentropfen oder in Rotwein geschmorte Sonntagsbraten - und sie scheut sie wie der Teufel das Weihwasser.

So wie alle hier, hat auch sie eine abgegriffene Ausgabe des Big Book vor sich auf dem Tisch liegen, ein Vermächtnis der AA-Gründer. Neben den zwölf Schritten hat Wilson auch ein Buch geschrieben. Dass es darin um Gott oder das, was jeder unter Gott versteht, geht, hat die AA oft ins Licht eines religiösen Geheimbundes gerückt. „Das Gottgetue hat mich am Anfang abgeschreckt, ich hatte ein Alkohol-, kein Gottesproblem", sagt Werner. Über die Lektüre, die zwölf von Wilson definierten Schritte und das Buch weiß er heute: „In Wirklichkeit hab ich mich vor mir selbst gefürchtet."

Dass Alkoholkranken das Nachdenken über das Leben ein großes Bedürfnis ist, kann auch Michael Musalek im Rehabilitationszentrum Kalksburg beobachten. Die Reflexionsmodule gehören zu den beliebtesten Veranstaltungen, und das Nachdenken über den Sinn des Lebens dauert meist länger als die geplanten zwei Stunden. „Spiritualität ist mir sehr wichtig, das ist ein fortwährender Prozess, der viel mit mir zu tun hat", glaubt Michael und überrascht sich damit jedes Mal selbst, denn „es war ein Grundzug meines Charakters, mich nie an die Regeln anderer zu halten." Mit Gott als religiöser Größe haben die AAs nichts am Hut, vielmehr ist er ein Platzhalter für Toleranz. Und die übt jeder hier.

„Die ersten Monate, die ich gekommen bin, war ich jedes Mal angesoffen. Das Schönste für mich war, dass die Leute hier trotzdem gesagt haben: „Schön, dass du da warst. Komm wieder!", erzählt Chris heute sehr selbstsicher. Neben ihm sitzt ein Neuer, verwirrt und sehr schüchtern: „Ich weiß nicht, es sind hundert Stimmen in meinem Kopf, ich war Installateur. Habe den Führerschein verloren. Ich habe Respekt vor dem Alkohol". Auch er wird das Reden noch lernen, das wissen hier alle. Viele waren monatelang in den Sitzungen und haben kein Wort gesprochen.
„Außenstehende können nicht verstehen, was Alkohol ist", sagt Manfred, der Methusalem. Vielleicht ist das auch das Erfolgsrezept. Über Alkohol zu reden, bedeutet hier, über sich selbst zu sprechen. Je länger man dabei ist, umso besser werden die Geschichten, umso genauer die Selbstanalysen - etwa die Angst vor dem Chef, die Scham, sein Kind vor lauter Trunkenheit im Kindergarten vergessen zu haben, seine Trauer darüber, sich dem Leben nüchtern nicht gewachsen zu fühlen. Statt Trinken: Erzählen und Zuhören. „Man kann auch auf gute Sachen süchtig werden", hat Chris es auf den Punkt gebracht.

Mitgliederzahlen, Erfolgsstatistiken oder Jahresberichte gibt es bei den Anonymen Alkoholikern nicht. Nach allgemeinen Schätzungen haben sie aber weltweit mehreren Millionen Menschen das Leben gerettet. (Karin Pollak, DER STANDARD, Printausgabe, 25.09.2010)