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Ein evangelischer Priester sitzt auf einer Anhöhe über dem Camp in Copiapo, in dem die Angehörigen der in der Mine San José verschütteten 33 Minenarbeiter wohnen. Noch nie waren Bergleute so lange unter Tage eingeschlossen

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Eva Münker-Kramer, klinische Psychologin und Psychotherapeutin, leitet bis 3. 9. ein Treffen von Psychologen aus neun Ländern zum Austausch ihrer Erfahrungen zur Notfallpsychologie.

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Notfallpsychologin Eva Münker-Kramer sagt, die Verschütteten in Chile sollen darüber aufgeklärt werden, wie die Psyche auf ihre Situation reagieren kann. Gudrun Springer fragte nach.

Standard: Was versteht man unter Notfallpsychologie?

Münker-Kramer: Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen. Bei Notfallpsychologie im Speziellen geht es darum: Wie erleben und verhalten sich Menschen in Akutsituationen nach Katastrophen?

Standard: Was sollte bei den in der Mine Verschütteten in Chile notfallpsychologisch getan werden?

Münker-Kramer: Man muss sich überlegen, wie die Situation sich auf die Menschen auswirkt. Dass die Leute Ängste bekommen können, gruppendynamische Phänomene auftreten können, klaustrophobische Symptome, dass sie auszucken können, wie Soldaten im Schützengraben, dass sie aggressiv werden können oder sich stark zurückziehen. Ich habe gehört, dass die Verschütteten in Chile von außen Erklärungen bekommen, was mit ihnen alles passieren kann. Man nennt das Psychoedukation. Das ist ganz wichtig, damit Betroffene nicht anfangen, sich als verrückt oder durchgedreht zu erleben. Die Botschaft ist: Das ist eine normale Reaktion eines normalen Menschen aufgrund einer Ausnahmesituation.

Standard: Wären Sie in Chile verantwortlich für die psychologische Betreuung der Betroffenen, was würden Sie noch tun?

Münker-Kramer: Ich würde Kollegen bereitstellen, die für Fragen zur Verfügung stehen, und ich würde versuchen, regelmäßig Informationen zu holen, wie die Reaktionen der Menschen unten sind. Dann würde ich schauen, welche der Angehörigen so weit betroffen sind, dass sie Hilfe brauchen. Und ich würde versuchen, schon jetzt die Fühler auszustrecken, wer später zur Verfügung stünde für traumaspezifische Psychotherapie, wenn die Bergleute rauskommen. Denn in so einer extremen Situation wie dieser ist die Notfallpsychologie alleine nicht mehr ausreichend.

Standard: Wie soll die Kommunikation mit den Verschütteten konkret ablaufen?

Münker-Kramer: Wenn zum Beispiel jemand beobachtet, dass - salopp gesagt - einer seit Tagen in der Ecke sitzt, dann könnte man der Person sagen, wie sie damit umgehen soll: Sprechen Sie ihn laut an, reorientieren Sie ihn - zum Beispiel: Lassen Sie ihn von 1000 rückwärts zählen. So ähnlich wie ein Rettungsassistent, der an einer Leitstelle sitzt, etwa sagt: Messen Sie den Puls.

Standard: Seit wann gibt es in Österreich Notfallpsychologen?

Münker-Kramer: Nach Lassing (Grubenunglück, 1998, Anm.) haben wir begonnen. Dann kam Galtür (Lawinenunglücke, 1999), dann Kaprun (Seilbahnbrand, 2000). Seit zehn Jahren gibt es wirklich gute Konzepte und eine Ausbildung.

Standard: Woher holte man das Know-how?

Münker-Kramer: Wir haben uns orientiert an dem, was es in Amerika schon gab, haben Kollegen aus den USA und Deutschland eingeladen. Dann haben wir das vom Psychologenverband her aufgebaut. Inzwischen gibt es entsprechende Curricula fast in jedem Bundesland. Heute gibt es rund 120 vom Psychologenverband zertifizierte Notfallpsychologen.

Standard: Derzeit sind Kollegen aus Osteuropa in Wien, um von Österreich etwas zu lernen. Gibt es dort bisher nichts Vergleichbares?

Münker-Kramer: Das ist ganz unterschiedlich. Es sind zum Beispiel Kollegen da aus Litauen, Lettland, Malta, Bulgarien, der Slowakei, der Ukraine, wo es noch wenig dazu gibt. Wir wollen ihnen das, was wir vom Psychologenverband zusammentragen haben, vermitteln - sowohl vom Strukturellen als auch vom Inhaltlichen her. Der Europarat trägt das Projekt.(Gudrun Springer, DER STANDARD Printausgabe 2.9.2010)