Ein Lied gibt es auch, und das geht so: "Wo bist du, mein Recep? / Ich werde Nein zu dir sagen / Deine Gesetze begrabe ich in der Wahlurne." Es ist ein fürchterlicher Ohrwurm, ein türkisches Volkslied, das die Oppo-sitionspartei CHP wieder für eine Wahlkampagne umschreiben ließ. Dieses Mal geht es gegen die Verfassungsänderung, über die Recep Tayyip Erdogan, der türkische Premierminister, abstimmen lässt. Die Republikanische Volkspartei CHP, bisher Gralshüter der säkularen Türkei und erbitterte Gegnerin der Religiösen, lädt zum großen Festival des Nein.

Kemal Kilicdaroglu kann kaum noch sprechen, als er das Mikrofon in die Hand nimmt. Jeden Tag tritt er in einer oder zwei Städten im Land auf, seit einem Monat geht das so. An einem Sonntagnachmittag in Istanbul kommen mehrere Zehntausend, um den neuen Parteichef der CHP zu hören. Der "türkische Gandhi" wurde er genannt, als er vergangenen April den Vorsitz der Partei übernahm, der runden Brille und des mageren Gesichts wegen, aber auch weil der 61-Jährige als sauber gilt und keine Korruptionsaffären hinter sich herschleppt. Dennoch: Ein "Gandhi" in der türkischen Politik sei ein absoluter Non-Starter, sagen politische Beobachter. Das Volk will Chefs sehen.

Kilicdaroglu weiß das und gibt sich gar nicht erst einmal mit Argumenten ab. 20 Minuten vergehen, das Wort "Verfassung" ist noch nicht einmal gefallen, aber den Regierungschef greift Kilicdaroglu dafür unentwegt an. Recep, so ruft er in die Menge und nennt Erdogan wie so oft nur bei seinem Vornamen, führe sich wie ein Sultan auf - autoritär und abgehoben von der Realität. "Wenn du ein Mann bist, dann lass uns eine Fernsehdebatte haben!"

Die wird er nicht bekommen. Erdogan, ein ungleich besserer Redner als der Oppositionschef, verlässt sich auf seine Popularität und sein Charisma. Doch vor allem sieht sich der türkische Premier in diesen Wochen auf einer Welle der Zustimmung, seiner Ja-Kampagne für die Verfassungsänderung, die den Widerstand der Opposition ebenso wie unlogisch erscheinen lässt. Kilicdaroglus CHP war eines der Opfer des Militärputschs von 1980. Die damals noch linksstehende Partei war geschlossen worden, ihr Chef Bülent Ecevit kam ins Gefängnis. Dass die CHP heute gemeinsam mit der rechtsextremen MHP und der Kurdenpartei BDP den Status quo aufrechterhalten will und die Verfassung der Putschgeneräle mit den immer noch weiten Eingriffsmöglichkeiten des Militärs stützt, gehört zu den großen Merkwürdigkeiten der türkischen Politik. Die Opposition hat das Referendum am 12. September deshalb zu einer Abstimmung über die regierende konservativ-islamische AKP gemacht. "Unter unserer Regierung wird jeder frei und gleichberechtigt sein", verspricht Kilicdaroglu der Menge in Istanbul. Erdogans Verfassung sei nur für die reichen Leute, behauptet er. Und: "Wir werden der Terror der PKK stoppen!" Wie, sagt er nicht.

Einfluss auf die Justiz

Es gibt andere Orte und Gelegenheiten, wo Kemal Kilicdaroglu subtilere Botschaften zu vermitteln versucht. Einen wichtigen Einwand gegen die Verfassungsänderung gibt es natürlich. Durch die vorgesehene Erhöhung der Zahl der Richter in den beiden höchsten Gerichten des Landes wird der Einfluss der AKP dauerhaft steigen, denn mit ihrer Mehrheit im Parlament kann sie über die Besetzung der neuen Richterstellen entscheiden.

Kilicdaroglu, lange Jahre hoher Beamter im Finanzministerium und bei der Sozialversicherung, versucht nun, seine Partei aus der langen Erstarrung im nationalistischen Eck zu bringen. Politische Gegner aus der AKP bescheinigen ihm Engagement: "Er hat verstanden, dass er hinaus ins Land und die Leute anfassen muss. Die CHP hat gelernt, dass sie eine solche Kampagne nicht mehr von einem Büro in Ankara aus führen kann."

Anders als sein Vorgänger Denis Baykal hielt Kilicdaroglu auch Kundgebungen im Südosten des Landes ab, Gegenden, wo die CHP keine Stimmen hat, aber sich nun zumindest mit den Kurden einig in der Ablehnung der Verfassungsänderung weiß. Erhält die AKP nur ein knappes Ja beim Referendum, so glaubt Ilter Turan, Politologe von der Bilgi-Universität, geht Kilicdaroglu gestärkt hervor. "Er hat die Partei bereits verjüngt und sucht eine neue Politik." (Markus Bernath aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 1.9.2010)