Der weiße Kittel ist die Reizwäsche der Österreicher. Massen quartieren sich nicht nur allabendlich in die virtuellen Spitäler schwülstiger Arztserien ein, sie stürmen auch die ebenfalls nicht zu knapp gesäten realen Heilanstalten. Auf 100 Einwohner kommen im Jahr 27 Krankenhausaufnahmen - Europarekord.
Diese Vorliebe macht die Gesellschaft nicht unbedingt gesünder. Wer rasch unters Messer muss oder sonst einen Akuteingriff benötigt, kann in aller Regel zwar auf professionelle Hilfe bauen, die wohl zur Weltspitze zählt. Doch viele aufwändig behandelten Krankheiten ließen sich durch bessere Vorsorge, die außerhalb der Spitäler angesiedelt ist, verhindern. Für Prävention gibt der Staat aber weniger aus als im internationalen Schnitt - im Spitzenfeld liegen die Österreicher deshalb auch bei Volkskrankheiten wie Übergewicht, Rauchen und Alkoholismus. Was scheinbar harmlos mit Speckröllchen und Reizhusten beginnt, endet nicht selten in der Klinik. 

Dieses Versäumnis kostet die Patienten nicht nur Lebensjahre, sondern den Staat auch viel Geld, denn am teuersten ist die Behandlung im Krankenhaus. Bei den Spitalskosten pro Kopf hält Österreich einen weiteren Rekord, und im Gegensatz zu anderen Staaten weist der Trend ohne Knick nach oben. Das zeigt, dass die bisherigen Reformen kaum griffen.

Dabei hört sich in den Lippenbekenntnissen alles so einfach an: Teure Krankenhausbetten abbauen, dafür in (billigere) Arztpraxen, Pflegeplätze und andere Einrichtungen investieren. Doch geht es hart auf hat, beackert jeder Akteur seinen eigenen Schrebergarten. Das trifft nicht nur auf die Länder zu, die aus Angst um Einfluss, Wählerstimmen und lokale Arbeitsplätze jedes einzelne Minispital verteidigen. Auch die Bundesregierung torpediert mit der bisher verfolgten, kurzsichtigen Sparstrategie die eigene Gesundheitsreform.

Jeder sei dafür verantwortlich, bei sich selbst zu sparen: Dieses Motto schleudert Finanzminister Josef Pröll Bittstellern entgegen, die bei ihm anklopfen. Dem Sozialminister etwa richtet die ÖVP aus, er bekomme keinenfalls zusätzliches Geld für einen Pflegefonds, sondern solle schauen, wie er die halbe Milliarde im eigenen Ressort auftreibt - ein sehr engstirniges Verständnis von Gesundheitspolitik. Schließlich liegen auch deshalb so viele Pflegefälle unnötigerweise in Spitalsbetten, weil Alternativen fehlen. Verschleppt die Koalition den überfälligen Ausbau von Pflegeplätzen, wird das auch so bleiben.

Die Krankenkassen müssen nach Willen der Koalition ebenfalls eisern sparen. Doch wie sollen diese dann die Versorgung außerhalb der Krankenhäuser ausbauen, wie das die selben Politiker fordern? Ehe sich die Kassen für neue Defizite prügeln lassen, werden sie erst recht versuchen, Patienten ins für sie billigere, aber für die Allgemeinheit teurere Spital umzuleiten.

Mit dem Tunnelblick, der nur die roten Zahlen sieht, hintertreibt die Regierung die Gesundheitsreform, ehe diese richtig begonnen hat. Zweifellos sind Einschnitte bei Spitälern und Verwaltung nötig, doch gleichzeitig braucht es Investitionen, etwa in die Pflege - und eine Portion Realismus. Auch die beste Reform kann die Kostensteigerung, für die nicht nur Ineffizienz, sondern auch der medizinische Fortschritt und die Alterung verantwortlich sind, nur dämpfen. Billiger aber wird das System nicht werden - sofern nicht die Qualität der Versorgung heruntergefahren wird. (Gerald John, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.8.2010)