Die Erkundung der Träume führt den Dichter in ein Zwischenreich des Halbbewussten und zur "Literatur vor der Literatur".
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Wien - Woher nimmt der Dichter seine Worte? Sucht und findet er sie, oder werden sie ihm nicht vielmehr eingegeben? Ist es der Dichter, der schreibt, oder wird der Dichter geschrieben? Oder auch: Was ist vor der Niederschrift der Worte durch den Dichter?
Peter Handkes soeben erschienenes Buch Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (Verlag Jung und Jung, Salzburg) ist ein Experiment, dem diese Fragen vorausgehen. Das Buch versammelt jene losen, ungeordnet belassenen Sätze, die der Autor über den Zeitraum eines Jahres unmittelbar nach dem Aufwachen niedergeschrieben hatte. Auf der Schwelle zwischen Schlaf und Wachzustand hoffte Handke in diesem Selbstversuch, ins "Zwischenreich des Halbbewussten" vorzudringen.
Psychotherapeutische Versuche, das Unbewusste ins Bewusste zu transferieren, gehen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Im Halbschlaf oder unter Hypnose regte Pierre Janet, der Erfinder der modernen Psychiatrie, seine Patienten zum Schreiben an. Der französische Surrealist André Breton adaptierte diese Methode der Écriture automatique in den 1920er-Jahren für die moderne Literatur. Schon vor Jahrhunderten vertrauten Künstler mit ähnlichen Methoden auf spirituelle oder ekstatische Eingebungen - und sei es nur, um einem Reflexionszwang zu entkommen oder Schreibhemmungen abzulegen.
Unzensiert denken
Breton brachte nun die Lehren Freuds, mit denen er bestens vertraut war, ins Spiel. Das Schreiben solle dem Denken unzensiert folgen. Wer, soeben aus dem Traum erwacht, willkürlich formulierte Sätze niederschreibt, unterziehe sich einem "Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft" . Breton schwebte ein unmittelbar fließender Monolog vor, der die Zensur des Verstandes auszuschalten vermag. Der Kreativität läge dementsprechend die "Unerschöpflichkeit des Raunens" zugrunde.
Handke, der bereits seine täglichen Beobachtungen auf Reisen oder Gestern unterwegs (2005), seine Verzettelungen oder auch einen Wintertagtraum publiziert hat, überrascht nun wenig mit seinem nächtlichen Notizbuch. Ihn beschäftigt mehr die Ergründung kreativer Prozesse als die Erkundung der eigenen Psyche. Das Notieren sei ihm zur "Lebensweise" geworden, zu einer "Möglichkeit, gleichsam hinter die Literatur zurückzugehen" , bevor etwas fest werde. Handke spricht von einer "Literatur vor der Literatur" und von "Anflügen" , aus denen er keine Geschichten machen wolle.
Methodisch hält er sich genau an das Konzept der Surrealisten. Peter Handke bannt in seinen Aufzeichnungen Traumreste, die einer Sphäre des Vorbewussten entstammen und nur noch eine vage Ahnung von der Freud'schen Traumarbeit des Schreibenden hinterlassen.
Ungeschliffene Sätze
Ungeschliffen, unbearbeitet sind diese Traumsätze Handkes in Ein Jahr aus der Nacht gesprochen schlicht in der Form und Reihenfolge abgedruckt, wie sie vom Autor notiert wurden. Wie bei den Surrealisten wird die Grammatik in der Spontaneität ihrer Entstehung belassen. Weder lässt sich ein System erkennen, noch eine Interpretation vornehmen. Manche Sätze enthalten eine ganze Geschichte, die noch erzählt werden könnte, manche wirken verrätselt philosophisch, andere erscheinen dem Leser hingegen banal und redundant.
Handke will einem hier keineswegs vorgaukeln, ein Dichter erwache morgens bereits mit klingenden Verszeilen auf den Lippen. Manchmal denkt er auch nur: "Ob ich das Kreuzworträtsel noch schaffe?" Oder: "Dein Gesicht riecht nach Seife" Oder er macht sich Gedanken über seine Heimat und befindet schlicht: "Ich verstehe Kärnten immer noch nicht."
Immer wieder kommen reale Personen vor (Brad Pitt beispielsweise, ausgerechnet bei der Müllabfuhr!), naturgemäß tauchen auch Peter Handke selbst und sein Werk in den Traumnotaten auf. "P.H. im Neunten Land?" - "Neunmal kennt er das Land nicht" (die mit Abschied des Träumers vom Neunten Land betitelten Erinnerungen an Slowenien erschienen 1991), ein Einbaum fährt als Kinderwagen vorbei, und auch der Vorgang des Schreibens beschäftigt Handke in seinen Träumen.
Aus der Unbeschwertheit dieser spontanen Formulierungen entstehen immer wieder überraschend humorvolle bis skurrile, flapsige und zweideutige Sequenzen, die man von einem Peter Handke kaum erwartet hätte. "Auf zum Tigerwirt, zur Frau mit der roten Orange!" geht es da, oder auch: "Zu spät für die Messe - aber immerhin liegen von den Hostien noch ein paar Krümel herum."
Einladung in die Träume
Auf einer Strecke von rund 500 Notaten überwiegt aber ein geheimnisvoll traumwandlerischer Ton, eine entrückt-versonnene Stimmung, die herrliche Phantasmen gebiert. Folgt man der Einladung in Handkes Traumbilder, sieht man Gott in Plastikfetzen über die Straße springen, man begegnet einem Frauenmörder, einem Hund mit gefrorenen Zähnen und vielen Liebenden. "Er hat die Hand in den Fluß der Träume gesteckt und sie trocken wieder herausgezogen." Oder es wird eine Schranke ersonnen, die sich durch einen Nerv im Auge, das einen Haselnussstrauch fixiert, öffnen lässt: "Aber sie öffnet sich nicht!" - "Weil du die Nüsse nicht richtig angeschaut hast."
Verlagsleiter Jochen Jung gibt eine einfache Leseanleitung ab: "Alle Sätze haben hier ein Lebensrecht. Wenn sie wirken, freuen wir uns, wenn sie nicht wirken, dann lies den nächsten Satz."
"Es kann zur Schrift kommen, aber es kann auch zu nichts kommen" , lautet einer dieser Sätze Peter Handkes. Man kann sein Buch einfach als Appell für die Muße lesen und im Sinne Bretons auf die Unerschöpflichkeit des literarischen Urmaterials vertrauen. (Isabella Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 28./29. August 2010)