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Bernhard Bueb fordert mehr Disziplin bei der Erziehung von Kindern.

Foto: Archiv/Schule Schloss Salem

Er ist Deutschlands bekanntester, aber auch umstrittenster Lehrer. Bernhard Bueb blieb auch nach den Missbrauchsskandalen an deutschen und österreichischen Schulen bei seiner Ansicht: "Es gibt keine kulturelle Leistung ohne Disziplin." Im Gespräch mit derStandard.at erklärt er, warum Schulen ohne Autoritäten nicht funktionieren, Lehrer die Persönlichkeitsbildung von Kindern in den Vordergrund rücken sollten und die Schulpflicht auch auf die Freizeitgestaltung von Kindern ausgeweitet werden sollte.

derStandard.at: Angesichts der vielen Missbrauchsfälle an deutschen und österreichischen Schulen – würden Sie etwas an ihrer Forderung nach mehr Disziplin im Schulalltag und der Erziehung von Kindern revidieren?

Bueb: Nein, ich würde sogar manche Forderungen noch verschärfen. Ich glaube, dass an den Schulen, in den Sportvereinen oder in den Kinderheimen, wo es zu diesen Missbräuchen gekommen ist, immer ein Mangel an Führung geherrscht hat, vor allem ein Mangel an Aufsicht und Aufmerksamkeit, auf das was in dieser Einrichtung vor sich geht. Auch ein Mangel an Forderung an die Erwachsenen sich selbst zu disziplinieren, sich also den Kindern gegenüber zurückhaltend und angemessen zu benehmen. Es braucht eine strenge Ordnung in jeder Einrichtung und eine sehr aufmerksame Aufsicht der Erziehenden, damit so etwas nicht mehr vorkommt.

derStandard.at: Autoritäten implizieren immer auch Hierarchien. In Österreich haben die Missbrauchsfälle genau jene Schulen betroffen – vorwiegend katholische – wo diese Strukturen sehr festgefahren sind. Bedingen diese Hierarchien und Ordnungen nicht auch, dass man eher wegschaut, weil man Angst um die eigene Position hat?

Bueb: Ja, es gab aber auch in sehr liberalen und reformpädagogischen Schulen Missbrauchsfälle – wie eben der Odenwaldschule. Ich war selber Lehrer dort. Ich behaupte, dass der Missbrauch letztlich nichts mit dem Erziehungsstil zu tun hat. Missbrauch erfolgt aufgrund einer pervertierten Triebverirrung, die sich ganz unabhängig davon entwickelt, ob ein pädophiler Erwachsener in einem autoritären oder liberalen System arbeitet.

Im Grunde ist das ein Machtmissbrauch. Macht können Erwachsene auch ohne hierarchisches System ausüben – einfach aufgrund ihrer Persönlichkeit. Gerold Becker (Anm.: Leiter der Odenwaldschule bis 1985) übte Macht aus durch seine starke charismatische Begabung. Er hat eine individuelle Faszination auf die Kinder ausgeübt. Sie wollten von ihm geliebt werden und waren dafür auch bereit „Opfer" zu bringen.

derStandard.at: Macht wird bei Ihnen zunächst als etwas Neutrales verstanden. Es komme auf den Umgang damit an. Wo lernt man den Umgang damit überhaupt? Als Lehrer und Elternteil?

Bueb: Macht wandelt sich in Autorität, wenn sie rechtmäßig ist. Ein Polizist hat Macht. Sie wird zur Autorität, wenn er sie nutzt, um seinen Auftrag zu erfüllen, nämlich Menschen zu schützen. Gleiches trifft auf die Erziehung zu, in der Eltern Autoritäten sind. Eltern, die ihre Kinder lieben, werden ihre Macht nicht missbrauchen.

Wenn Eltern ihre Kinder nicht lieben oder ihnen gleichgültig gegenüber stehen, führt das in der Regel zu Machtmissbrauch. Lehrer müssen die Kinder zwar nicht lieben, aber eine Zuneigung zu den Kindern haben und ihnen muss das Wohl der Kinder – sprich die Bildung – ein Anliegen sein. Alle, die Macht ausüben, brauchen eine Moral, die sie lehrt, dass sie ihre Macht nur zum Wohle derer gebrauchen dürfen, die ihnen anvertraut sind. Das Bewusstsein hierfür wächst mit dem Grad an Bildung.

derStandard.at: Sie schreiben in Ihrem Buch „Lob der Disziplin" davon, dass der Erziehung vor Jahrzehnten das Fundament weggebrochen ist – nämlich die „vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin". Sollen Autoritäten – ob Lehrer oder Eltern – von Kindern wirklich vorbehaltlos anerkannt werden?

Bueb: Ich würde den Satz heute so nicht mehr schreiben und habe ihn auch aus der Taschenbuchausgabe herausnehmen lassen, weil er zu Missverständnissen geführt hat. Mit "vorbehaltlos" meine ich Folgendes: In Deutschland gibt es immer noch Vorbehalte gegen Autoritäten an sich aufgrund unserer Geschichte. Wenn man in Deutschland von Autorität spricht, gehen sofort die skeptischen Lichter an. Ich meine damit nur, dass man prinzipiell Autoritäten anerkennen soll. Das heißt aber nicht, dass ich nicht bei jeder individuellen Autorität prüfen muss, ob sie ihre Macht rechtmäßig ausübt.

derStandard.at: Wie kann man zu Gehorsam und Disziplin erzogene Kinder noch zu kritischen Geistern – sich und ihrer Umwelt gegenüber – erziehen?

Bueb: Natürlich soll man Autoritäten hinterfragen dürfen. Einem Lehrer sollte aber grundsätzlich einmal die eine Autorität zugebilligt werden, die sein Amt mit sich bringt. Das bedeutet nicht, dass ein Jugendlicher die Autorität nicht in Frage stellen kann, wenn sie im gegeben Fall missbraucht wird. Er soll aber nicht sagen: Ein Lehrer hat nur Autorität für mich, wenn er sie nach meinen Vorstellungen authentisch gebraucht. Es ist leider heute vielfach so, dass Jugendliche nur die anerkennen, die in ihrem Sinne authentisch handeln.

derStandard.at: Sie plädieren für eine Dialektik von Disziplin und Liebe – wobei sie darauf pochen, dass der Disziplin wieder mehr Platz eingeräumt wird. Zu viel Liebe hin oder her: noch gefährlicher erscheint die Gleichgültigkeit vieler Eltern gegenüber ihren Kinder, die zur Verwahrlosung fühlt. Sind Eltern nicht wegen zu viel Liebe sondern aus purem Desinteresse vielleicht heute keine Autoritäten mehr?

Bueb: Es gibt zwei große Gegensätze. Eltern, die aus Liebe handeln, und Eltern, denen ihre Kinder gleichgültig sind. Das ist leider oft schichtabhängig. Eltern aus gebildeten Schichten lieben ihre Kinder eher, in den ungebildeten Schichten ist es Eltern oft egal, was aus den Kindern wird. Aber auch Liebe allein reicht nicht.

Wenn ich liebe, muss ich dem Kind auch gewisse Grenzen setzen. Ich muss bereit sein, das, was ich für richtig halte, dem Kind abzuverlangen. Ich muss das Kind fordern, ihm Gelegenheit bieten sich weiterzuentwickeln und an seine Grenzen zu kommen, die Selbstdisziplin mit ihm üben. Viele Eltern glauben, sie würden die Zuneigung der Kinder verlieren, wenn sie etwas von ihnen fordern. Eltern müssen aber konfliktbereit sein. Es gibt einen schönen Satz von Ingeborg Bachmann: "Tapferkeit vor dem Freund." Man muss auch bereit sein mit dem Freund – respektive dem Kind – streng ins Gericht zu gehen. Ich wehre mich gegen einen Begriff von Liebe, der so tut, als ob Liebe sich in freundlicher Zuwendung erschöpft. In meinen Augen müssen liebende Eltern Kindern auch Disziplin abverlangen.

Disziplin heißt ja Kindern ein Mittel an die Hand zu geben, damit sie ihre Sachen auf die Reihe kriegen. Dass sie ordentlich, pünktlich, sorgfältig und gewissenhaft sind und verzichten können. Das ist natürlich nicht einfach. Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach. Es gibt allerdings keine kulturelle Leistung ohne Disziplin. Deshalb müssen wir uns immer wieder selbstdisziplinieren, gegen unsere Triebe, gegen unsere Trägheit, gegen unsere Feigheit.

derStandard.at: Lehrer beklagen vielfach die Lethargie und das Desinteresse von Schülern im Unterricht. Kann man dem mit Autorität wirklich beikommen? Resultiert daraus nicht noch ein größeres Abwehrverhalten?

Bueb: Die Schulpflicht ist eine Vorbedingung für unsere Demokratie und Freiheit. Demokratie ohne Bildung funktioniert nicht und Bildung wird nur dadurch garantiert, dass Kinder zur Schule gehen müssen. Genauso muss man Kinder verstärkt in Situationen bringen, wo sie Theater spielen müssen, musizieren müssen, Sport treiben müssen. Deshalb bin ich auch ein heftiger Vertreter der Ganztagsschulen, wo am Nachmittag diese Dinge stattfinden. Das große Problem der Kinder – insbesondere der bildungsfernen Schichten – ist, dass sie vor dem Computer und TV verdummen, weil niemand sie zu ihrem Glück zwingt und sagt: dein Glück besteht darin, dass du dich anstrengst, Fußball spielst oder Schlagzeug lernst, oder sonst etwas. Manche Kinder machen das freiwillig und haben einen natürlichen Trieb zu solchen Dingen. Wenn das aber nicht gefördert wird, wird ein Großteil davon nachlässig.

Die Frage in diesem Zusammenhang ist: Wie weit soll die Schulpflicht auch auf andere Aktivitäten ausgeweitet werden? Ich meine, dass die Ganztagsschule der einzige Weg dazu wäre, Kinder flächendeckend zu verpflichten, vernünftige Dinge zu machen.

derStandard.at: Sie würden Kinder also im Rahmen der Schulpflicht dazu verpflichten ein Musikinstrument zu lernen oder eine Sportart zu treiben?

Bueb: Gebildete Eltern machen das in der Regel sowieso. In den bildungsfernen Schichten passiert das sehr selten. Gerade deshalb wäre ich dafür die Schulpflicht auf den Nachmittag zu erweitern, wo allerdings nicht unterrichtet wird. Dafür soll verpflichtend Theater gespielt, Sport getrieben und Musik gemacht werden. Die Schüler sollen natürlich selbst wählen, dürfen in dieser Zeit nur nicht herumhocken.

derStandard.at: Sie nennen den anglo-amerikanischen Raum immer als Vorbild, wenn es um das Einüben von Disziplin geht. Warum?

Bueb: Dort gibt es eine andere Geschichte und dementsprechend ist Disziplin etwas Selbstverständliches. Auch an amerikanischen Schulen – wo es mitunter sehr locker zugeht – ist klar: der Lehrer ist nun mal der Lehrer. In Deutschland und Österreich sind wir durch die nationalsozialistische Zeit so geschädigt, dass man skeptisch gegenüber jeder Form der Machtausübung reagiert, auch wenn sie legitim ist. In Deutschland sind Lehrer deshalb viel zu sehr damit beschäftigt ihre Autorität zu sichern und ein Minimum an Ordnung herzustellen. Diese Ordnung müsste eigentlich selbstverständlich sein.

derStandard.at: Wie kann das erreicht werden?

Bueb: Man müsste ganztägige Kindergärten machen, flächendeckende Kindertagesstätten einführen. Es wäre ideal, wenn Eltern ihre Kinder schon im Alter von drei Monaten guten Kindertagesstätten anvertrauen.

derStandard.at: Wo bleibt dann die Familie?

Bueb: In den meisten westlichen Kulturnationen ist die externe Kinderbetreuung selbstverständlich. Es sind nur die deutschsprachigen Länder die hier skeptisch sind. Wir müssen weg vom romantischen Familienbild: nämlich, dass die Familie letztlich der einzige Ort ist, wo Kinder gut aufwachsen können. Diese Auffassung teilen die meisten westlichen Nationen, die frühe Gemeinschaftserfahrungen von den Kindern fordern, nicht.

derStandard.at: Viele Lehrer klagen über Burn-Out und immense Belastungen im Beruf, weil sie immer mehr auch zu Sozialarbeitern und Psychologen würden. Wenn Sie das Berufsbild eines Lehrers beschreiben müssten – was hat er genau zu erfüllen?

Bueb: Das Wichtigste ist es, den Kindern zu einem Selbstwertgefühl zu verhelfen. Sie müssen an sich glauben lernen. So ein Kind wird dann auch mit Begeisterung etwas unternehmen. Wenn ich Deutsch oder Mathematik unterrichte, sollte nicht an erster Stelle die Absicht stehen, dass die Schüler eine Prüfung bestehen, sondern dass sie mithilfe des Rechnen-Lernens und Schreiben-Lernens Selbstbewusstsein entwickeln. Ein gutes Beispiel dafür ist die Montessori Pädagogik, deren Leitsatz "Hilf mir es selbst zu tun" ist. Damit das Kind das tun kann, muss es eine vorbereitete Umgebung haben und gelernt haben sich darin – mittels Selbstdisziplinierung – zurechtzufinden. Das stärkt das Selbstwertgefühl und ist das große Geheimnis der Montessori-Pädagogik, das überall Gültigkeit haben sollte.

derStandard.at: Sind Lehrer auch für soziale Probleme in der Familie zuständig?

Bueb: Ja, dafür sind sie sehr wohl zuständig. Lehrer müssen wegkommen von dem reinen Auftrag "Wissen" zu vermitteln und sollten bereit sein Erzieher zu werden. Persönlichkeitsbildung muss wichtiger als Wissensvermittlung sein. Dazu ist natürlich viel Zeit nötig, die es derzeit nicht gibt. Die deutsche Halbtagsschule leidet vor allem unter Zeitmangel. Wenn ein Konflikt in der Klasse entsteht, hat der Lehrer oft nicht die Zeit den Konflikt mit den Kindern zu lösen. Er kann autoritär handeln oder darüber hinwegsehen. (Teresa Eder/derStandard.at, 30.8.2010)