Chuzpe ist bekanntlich, wenn jemand z. B. seine Eltern ermordet und vor Gericht um mildernde Umstände ersucht, weil er Vollwaise ist. Allgemeiner formuliert: mit einer gehörigen Portion Frechheit versuchen, andere für blöd zu verkaufen. Endlich wieder eine Disziplin, in der wir zur Meisterschaft auflaufen können:

  •  Die SPÖ-ÖVP-Bundesregierung erklärt, dass sie ihr Budget nicht zum vorgegebenen Termin vorlegen kann, weil die wirtschaftliche und damit die Einnahmenentwicklung zu unübersichtlich sei, um sichere Prognosen und darauf basierende Planungen erstellen zu können. Prognosen sind halt schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Mit den Wiener und steirischen Landtagswahlen, wo die P. T. Wähler/-innen verärgert auf Einsparungsbeschlusse und Steuererhöhungen reagieren könnten, hat das natürlich rein gar nichts zu tun. So etwas tun nur die Deutschen - Stichwort Zögerlichkeit bei der Griechenlandhilfe wegen Landtagswahlen. Deshalb durften sich österreichische Politiker (z. B. ein Staatssekretär im Finanzministerium) darüber empören. Gar nichts damit zu tun hat natürlich Wiens Bürgermeister und Spitzenkandidat Michael Häupl: Originalton im Standard vom 23. 8.: "Aber sicher nicht meinetwegen. Mich hat niemand gefragt, und ich hätte mir das auch sicher nicht gewünscht".
  •  Apropos Häupl (gleiche Quelle): "Das mit dem aufgeblähten Beamtenapparat ist fundamentaler Unsinn. Das (kritisierte niedrige Pensionsantrittsalter von Wiener Beamten, Anm. Ulram) ergibt sich, weil viele Menschen im Schichtbetrieb arbeiten."
  •  Die Wiener ÖVP verlangt dafür einerseits Einsparungen der Gemeinde, andererseits attackiert sie auf Plakaten angebliche Schließungspläne bei Minispitälern und Kliniken.
  • "ÖBB in Finanznot: SPÖ drängt auf Millionenhilfe" (der Standard vom 23. 8. war eine wahre Fundgrube): "Konkret verlangen ihre Bahnmanager einen Verzicht auf Rückforderungen des Staates für illegale Gratisfahrten und überhöhte Pflegegeldbezüge." Wäre ja noch schöner, wenn die P. T. Steuerzahler/-innen nicht mehr für den betriebsinternen Murks zur Kasse beten werden dürfen.

Und die Opposition?

  •  "Mehr Mut für unser 'Wiener Blut'. Zu viel Fremdes tut niemandem gut." Die Wiener FPÖ reimt wieder einmal, und das hat selbstverständlich nichts mit NS-Sprache und NS-Ideologie zu tun. Erstens, weil Strache und Kickel nachweislich nach 1945 geboren wurden und später keine Zeit für die Beschäftigung mit der Vergangenheit gefunden haben. Zweitens, wenn doch, dann höchstens mit der Tradition der Wiener Operette, "in einem Vielvölkerstaat geprägt". (Strache in der Presse vom 24. 8.).

In diesem Sinne und weil die FPÖ - so schon Haider selig - "kein Verein zu Erforschung der Geschichte" ist, sondern eine Zukunftspartei, wird sie (so anonym bleiben wollende Quellen aus dem Umfeld des Parteiobmanns) in Zukunft die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen: "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist."

  •  Apropos Haider selig. Die rezente Beschäftigung von Medien und Justiz mit deren diversen angeblichen Finanztransfers sind natürlich nur Versuche der "Jagdgesellschaft", das segensreiche Wirken des Verblichenen für Österreich im Allgemeinen und für das Kärntner Landesbudget und die Hypo Alpe Adria im Besonderen in den Schmutz zu ziehen. Diesbezüglich sind sich die FPK (die Mehrheit der seit dem Vorjahr wieder erblauten Kärntner Orangen) und die unverändert orangen BZÖler ausnahmslos einig. Pietät ist selbstverständlich wichtig: um Haiders Andenken und das Images seiner ehemaligen Entourage willen.
  •  Die Grünen wiederum sind echt über politische Einflussnahme(versuche) auf die Justiz besorgt. Jedenfalls dann, wenn sie sich im Umfeld anderer Parteien abspielt. Selbst ist man selbstredend über jeglichen Verdacht erhaben und leistet allenfalls Hilfestellung zur Rechtsfindung (hier: Beweiswürdigung) für eine "überforderte Richterin".

Im Originalton (Brief an den Falter Nr. 33/2010) von Eberhard Theuer, der "im Auftrag des grünen Parlamentsklubs den Tierschutzprozess verfolgt": "... reichen die Verdachtsmomente ... keinesfalls für eine Verurteilung". "Die angeblichen Drohbriefe sind lediglich Ankündigungen von Kampagnen." Dem zitierten Autor verdanken wir auch die wegweisende Unterscheidung zwischen inkorrekten und politisch-korrekten Steinwürfen: "Der Steinwurf hatte somit einen antifaschistischen und keinen Tierschutzhintergrund."

Chuzpe ist offensichtlich keine Spitzensportart, sondern ein parteiübergreifender Volkssport. (Peter A. Ulram, DER STANDARD, Printausgabe, 26.8.2010)