Künstlich hergestellte Carbon-Prismen unter dem Mikroskop. Die Bildbreite entspricht vier Millimetern.

Foto: Rice University

Blick auf die Nano-Tubes, hundertmal näher herangezoomt als die Abbildung oben.

Foto: Rice University

Der belgische Künstler Frederik de Wilde (34) fühlt sich hingezogen zur Dunkelheit.

Foto: Czaja

"Hostage.pt.1" des Belgiers Frederik de Wilde ist dabei Kunstwerk und physikalischer Weltrekord in einem.

Wenn er nicht gerade arbeitet oder fürs Foto posiert, trägt er eine dunkle Sonnenbrille im Gesicht. Eine von den ganz dunklen, durch die man kaum noch die Augen sieht. "Ich fühle mich wohl in der Dunkelheit", sagt Frederik de Wilde. "Ich verstehe nicht, warum die meisten Menschen Angst davor haben. Für mich gibt es kaum etwas Faszinierenderes als dunkle, mystische Schwärze um mich herum."

Ab 2. September, wenn in Linz die Ars Electronica 2010 beginnt, kann man sich von der obskuren Leidenschaft des 34-jährigen belgischen Künstlers ein Bild machen. In der alten, seit Jahren leerstehenden Linzer Tabakfabrik, in die sich die Ars Electronica heuer erstmals eingenistet hat, wird er ein quadratisches, 60 mal 60 Zentimeter großes Werk präsentieren, das so schwarz ist, wie noch nie zuvor etwas schwarz gewesen ist.

In Hostage.pt.1 – so der Titel der Arbeit – wird das Licht tatsächlich zur Geisel. Und sie wird nie wieder freigelassen, denn der Reflexionsfaktor der schwarzen Oberfläche beträgt gerade einmal 0,03 Prozent. Man könnte, wenn man dürfte, die Nase direkt vors Bild halten, und doch würde man nichts sehen. Man hätte das Gefühl, direkt in ein abgrundtiefes Loch zu blicken. Man könnte sogar mit einer Taschenlampe darauf leuchten. Und trotzdem: Das Bild würde alles Licht schlucken und nichts reflektieren.

Für die ungewöhnliche künstlerische Anwendung der Nanotechnologie, die sich hinter diesem schwärzesten Schwarz verbirgt, wurde de Wilde mit dem heurigen Prix Ars Electronica in der Kategorie "[the next idea] voestalpine art and technology grant" ausgezeichnet. Das Preisgeld sowie das damit verbundene Stipendium im Future Lab des Ars Electronica Centers (AEC) kommt direkt vom Sponsoringpartner Voestalpine AG.

Schon seit Jahren befassen sich Wissenschafter aus aller Welt mit der künstlichen Erschaffung von "Super Black". Der bisherige Rekord, herbeialchimiert von Roy Sambles, lag bei einer Lichtreflexion von 0,45 Promille. Gemeinsam mit Shawn-Yu Lin, Professor am Department für Physik, Angewandte Physik und Astronomie vom Rensselaer Polytechnic Institute (RPI) in Troy, New York, gelang es de Wilde nun, den Reflexionsfaktor um weitere 0,15 Promille zu reduzieren. Neuer Weltrekord.

"In diesem Bereich reden wir nicht mehr von Farben, sondern von physikalischen und chemischen Prozessen auf Nanoebene", sagt Frederik de Wilde, der das Projekt als Artist in Residence auf der Rice University in Houston, Texas, abgewickelt hat. "Hier geht es nicht mehr um Oberfläche, hier geht es um Struktur."

Millionen von feinen Prismen mit einer Breite von rund 250 Mikrometern und einer Länge von ein bis zwei Millimetern sorgen dafür, dass sich das Licht in den kleinen Schluchten dazwischen verfängt und nicht mehr nach außen tritt. Jedes einzelne Prisma wiederum besteht aus Millionen Nano-Tubes, die den absorbierenden Effekt zusätzlich verstärken. Man müsste schon 100.000 Nano-Tubes nebeneinander legen, um die Stärke eines menschlichen Haars zu erreichen.

Aufwändige Produktion

Die Produktion der Nano-Tubes will de Wilde nur grob umreißen. "Allzu viel möchte ich nicht verraten, denn das ist Künstlergeheimnis", sagt er mit einem breiten Grinsen im Gesicht. "Rembrandt und Picasso haben die Zusammensetzung der Farben, die ihren Gemälden so eine wahnsinnige Strahlkraft verleihen, ja auch nicht verraten."

Wichtigste Ausgangsbasis sind Aluminium, Kupfer und Gold. Zuerst wird die Metalllegierung in einem Spotter mit Elektronenstrahlen beschossen. Danach kommt das Substrat in eine CVD-Kammer (Chemical Vapor Deposition), in der es zusammen mit Ethylen und vier weiteren Gasen erhitzt wird. In dieser Phase beginnen die Nano-Tubes zu wachsen. Je reiner die Stoffe und je länger die Erhitzungsdauer, erklärt de Wilde, desto länger die Tubes, desto schwärzer das Schwarz.

Für die Ausstellung im Rahmen der Ars Electronica werden die Tubes von der metallischen Trägerplatte losgelöst und mittels eines Carbon-Tapes auf Acrylglas befestigt. "Wirklich zufrieden bin ich damit noch nicht", sagt de Wilde. Gemeinsam mit Swarovski sollen nun Möglichkeiten für die Montage auf Glas erarbeitet werden. Ziel der Sache: Mit speziell entwickelten Gläsern lassen sich unerwünschte Fresnel-Reflexionen (benannt nach dem französischen Physiker Augustin Jean Fresnel) des Trägermaterials weiter reduzieren.

Militär ist bereits interessiert

"In einem einzigen Punkt habe ich Bedenken", sagt de Wilde. "Wie man aus der Vergangenheit weiß, werden große Entwicklungen und Errungenschaften oft für wenig erfreuliche Zwecke missbraucht." Das Militär ist bereits interessiert. Denn wenn es gelänge, Flugzeuge, Panzer, ja sogar Waffen in diese Nano-Oberfläche zu hüllen, dann würden sie für Radare und Röntgengeräte unerkannt bleiben – nicht nur sichtbares Licht, auch jede andere Frequenz elektromagnetischer Schwingungen wird von den Nano-Tubes zu 99,97 Prozent verschluckt.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten liegen in der Solarenergie, wo man aufgrund des hohen Absorptionsgrades des Lichts den Wirkungsgrad von Fotovoltaik verbessern könnte, sowie in der Computerhardware. Nanoschwarze Mikrochips und Prozessoren könnten die Abwärme speichern und gezielt abtransportieren.

"Bis es so weit ist, werden noch Jahre und Jahrzehnte vergehen", sagt der Darth Vader der Nanotechnologie. "Zum Glück, denn die Materie birgt so viel Gefahr, dass man damit langsam und vorsichtig umgehen muss." Vorerst einmal heißt es, Hostage.pt.1 zu verkaufen. Um wohlfeile 250.000 Euro. Ein Museum in Belgien ist bereits interessiert. Es wartet schon das nächste Projekt: Frederik de Wilde möchte auf die helle Seite hinüberwechseln. Er träumt bereits von einem Bild mit dem hellsten Hell der Welt. (Wojciech Czaja/DER STANDARD, Printausgabe, 25.08.2010)